Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
bestellen, aber für eine Pistole braucht man einen Waffenschein, und sie traut sich nicht zur Polizei.
25. August, 1967 Freitag
Seit gestern abend fiel Regen in die Stadt, dämpfte das Trampeln der Wagen auf der Schnellstraße am Hudson zu flachem Rauschen. Morgens ist sie aufgewacht vom Schlürfen der Autoreifen auf dem triefenden Damm unterm Fenster. Das Regenlicht hat Dämmerung zwischen die Bürokästen an der Dritten Avenue gehängt. Die kleinen Läden im Fuß der Hochhäuser schicken geringes, dörfliches Licht in die Nässe. Als sie die Neonbatterie in der Decke ihres Arbeitsraums einschaltete, malte das vom Dunklen zusammengedrückte Licht einen Blick lang Wohnlichkeit in die kantige Zelle. An diesem Tag soll das Kind aus dem Ferienlager zurückkommen.
Abends sind die Stirnen der Bank, wenig oberhalb ihres Stockwerks, mit Nebel verhängt. Von der Straße gesehen blinken die Fenster der Direktion wässerig, untergehende Schiffe.
Auf das Kind wartet sie am Abend im Imbiß-Saal des Busbahnhofs an der George Washington-Brücke, rauchend, in fauler Unterhaltung mit der Serviererin, die Zeitung unterm Ellenbogen. Die Zeitung liegt im selben Knick, in dem sie das Papier unterm Regendach des Kiosks herausgefischt hat, aufgespart für die Stunde Wartens. Sie erlaubt sich, nicht auf der ersten Seite anzufangen, sondern aus dem Inhaltsverzeichnis Meldungen auszusuchen.
Ein Bundesgericht hat Anklage erhoben gegen fünfundzwanzig Personen wegen der 407 000 Dollar in Reiseschecks, die im vorigen Sommer vom Flughafen J. F. Kennedy verschwunden sind. Sie haben den Mann, der die Schecks zum Viertel ihres Wertes weiterverkaufte, auch den, der sie für die Hälfte absetzte, und die Einwechsler, aber sie haben nicht den, der sie tatsächlich vom Gepäckkarren geschubst hat; der ihnen vermutlich Bescheid gegeben hat, ist am 11. Juli erschossen in einem Graben bei Monticello gefunden worden. Die Mafia telefoniert.
Das Kind hat ihr eine Postkarte mit der Zeit der Ankunft geschickt, es ist eine Fotografie, auf der sie zu sehen ist mit anderen Kindern in einem Ruderboot. Marie hat ein Bein im Wasser hängen, und um das Schienbein hat sie einen breiten, schwärzlichen Verband. Sie blickt angstlos, still zwischen den Grimassen der anderen. Sie ist mit dem Schienbein gegen die Bindung des Wasserskis geknallt. Sie mißt vier Fuß zehn Zoll. Ihre Schrift hat die Bogen und Schleifen der amerikanischen Vorlage. Beim Malnehmen schreibt sie den Multiplikator unter, nicht neben den Multiplikanden. Sie denkt in Fahrenheitgraden, in Gallonen, in Meilen. Ihr Englisch ist dem Gesines überlegen in der Artikulation, der Satzmelodie, dem Akzent. Deutsch ist für sie eine fremde Sprache, die sie aus Höflichkeit gegen die Mutter benutzt, in flachem Ton, mit amerikanisch gebildeten Vokalen, oft verlegen um ein Wort. Wenn sie achtlos Englisch spricht, versteht Gesine sie nicht immer. Wenn sie fünfzehn ist, will sie sich taufen lassen, und sie hat die Nonnen in der Privatschule am oberen Riverside Drive dazu gebracht, sie M’ri zu nennen statt Mary. Allerdings sollte sie von dieser Schule verwiesen werden, weil sie die Plakette GEHT RAUS AUS VIET NAM nicht im Unterricht abnehmen wollte. Sie steigt aus der blauen Schuluniform mit dem Wappen auf dem Herzen, sobald sie nach Hause kommt; sie hat eine Vorliebe für enge Hosen aus weißem Popelin, deren Saum sie mit einem Schälmesser abtrennt, und für Turnschuhe. Sie hat kaum eine Freundschaft aus den sechs hiesigen Jahren aufgegeben, sie spricht noch von Edmondo aus dem spanischen Harlem, der seine Gefühle schon im Kindergarten bloß mit Schlägen ausdrücken konnte und 1963 fürs Leben in eine Klinik kam. In vielen Wohnungen entlang des Riverside Drive und der West End Avenue ist sie über Nacht geblieben. Sie ist begehrt als Aufpasserin für kleine Kinder, sie ist aber streng gegen kleine Kinder, bisweilen derb. Sie hat das Ubahnsystem Manhattans im Kopf, sie könnte als Auskunftperson gehen. Was sie in ihrem Zimmer auf der Maschine schreibt, bewahrt sie auf in einer Mappe, die sie mit unfälschbaren Schleifen zubindet. Sie geht heimlich an den Kasten mit Gesines Fotografien, sie hat sich von ihrem Taschengeld ein Bild kopieren lassen, auf dem Jakob und Jöche zu sehen sind, vor der Lokomotivführerschule in Güstrow. Sie hat ihre Freunde in Düsseldorf vergessen. Westberlin kennt sie aus der Zeitung. Viele Geschäfte auf dem Broadway sind ihr tributpflichtig, Maxies mit Pfirsichen,
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