Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl
sie dem was zum Schlucken gegeben haben?
Und zumindest im elften Stockwerk der Bank konnten sie sich nicht beruhigen darüber, daß es an einem 19. Dezember ganze 13 Grad sind. Das soll es Jahrzehnte nicht gegeben haben. Das soll zum letzten Mal im Jahr 1931 gewesen sein! Die Begrüßungen sind alle dicht vor dem Umarmen. Und Keiner achtet darauf, ob Mrs. Cresspahl ihm das Kompliment fürs Äußere ordnungsgemäß mit einem Kompliment entgilt. Sie mögen es gemeint haben; aber kann das wahr sein?
Und das Wetter war den ganzen Tag was sie hier balsamisch nennen, hell und milde, und wildfremde Leute lächelten Mrs. Cresspahl an, auf dem Bürgersteig, in der Ubahn! Das Licht fühlte sich dick an. Man konnte mit dem ganzen Körper dagegen laufen, nicht nur mit den Augenlidern.
Und im Hausrestaurant griff Sam selber ein, als ich seine Speisekarte zum zweiten Mal las. - Nimm das Schmorfleisch, es ist köstlich, ich versprechs! sagte er und küßte vor Vergnügen seine Fingerspitzen. Dann ließ sich die Serviererin nach seiner Meinung ungebührlich Zeit, und Sam selbst mahnte durch die Scharte bei den Köchen an: Einmal Pot Roast, für die Dame hier, die mit dem Lächeln auf den Lippen!
Und wen ich auch traf, Amanda, James Shuldiner, Mrs. Kelly, Mrs. Ferwalter, Marjorie, alle wollten sie wissen, wie es Mrs. Cresspahl geht, und alle wollten sie eine wahrheitsgemäße, echte Antwort!
Und Marie rief eigens, gegen das Verbot, im Geschäft an und berichtete, daß zu Hause Post sei von Kliefoth, von Karsch, von D. E. Und der Mann, der uns den Käse verkauft, hätte Mrs. Cresspahl heute, nach ungefähr zweijähriger Bekanntschaft, gern etwas gefragt. Der Mann gibt sich säuerlich, oder seine bleiche Gesichtsfarbe macht ihn dazu, weil sie schon am frühen Nachmittag von schwärzlichem Bartwuchs verpetzt wird. Sein Laden ist so überlaufen, die Kunden müssen Nummern ziehen, um ihre Reihenfolge festzustellen, und er hat noch kein Mal ein Zeichen des Wiedererkennens gegeben. Aber an diesem Abend war er allein.
– Ich frage es denn also, madam.
– Man zu.
– Sie kommen manchmal mit einem Kind.
– Gewiß. Es sind bei Gelegenheit auch zwei.
– Ich meine im Grunde nur das eine Kind.
– Jenes mit den Zöpfen?
– Dies trifft zu. Jenes Kind meine ich.
– Und wie lautet die Frage?
– Ist das Ihr Kind?
– Das ist mein Kind.
– Aha.
– Ja.
– Ich würde dann, wenn Sie erlauben, noch eine Sache fragen.
– Ja.
– Also. Sind Sie verheiratet?
– Die Antwort ist positiv.
– So. Nun ja. Das wäre das.
Das war es denn wohl. That takes care of that.
Und Marie hatte sich von Mr. Robinson den Fahrstuhl geliehen und fuhr im Hause auf und nieder und wartete darauf, daß die Kabinentüren einmal aufgingen vor Mrs. Cresspahl, für die ich gelte, Mrs. Cresspahl, die da nicht ihr Kind erwartet hat, Gesine, die ich bin für Marie. Einmal wird das Kind aussehen wie ich auf den ersten Blick, aber mögen wird die Welt es auf den zweiten, und nicht einmal sie wird wissen, daß sie zurücklächelt wie Jakob.
Informationen zum Buch/Autor
»Es zeichnet sich ab, daß Johnson – der Autor der ›Jahrestage‹-Tetralogie – neben, wenn nicht vor Grass und Böll als umfassender, hellsichtiger, unbestechlicher Chronist des gesamtdeutschen Schicksals begriffen werden muß. Als Schriftsteller von weltliterarischem Rang.«
Joachim Kaiser 1992 in der
Süddeutschen Zeitung
Uwe Johnsons
Jahrestage
zählen längst zum Kanon der deutschen Nachkriegsliteratur. Beginnend mit dem 20. August 1967, erzählt »der Genosse Schriftsteller« in tagtäglichen Eintragungen bis zum 20. August 1968 das Leben von Gesine Cresspahl und ihrer zehn Jahre alten Tochter Marie in New York. Zugleich enthalten die
Jahrestage
die Geschichte der Familie Cresspahl, die Gesine ihrer Tochter »für wenn ich tot bin« erzählt. Es ist die Geschichte einer Familie im Mecklenburg der dreißiger Jahre, während der Herrschaft der Nationalsozialisten, in der sich anschließenden sowjetischen Besatzungszone und den ersten Jahren der DDR. »Jahrestage«, das sind die 365 Tage eines Jahres, das mit der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes in die ČSSR im August 1968 endet.
Uwe Johnson, geboren am 20. Juli 1934 in Cammin (Pommern), starb am 23. Februar 1984 in Sheerness-on-Sea (Kent/England).
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