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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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ängstlich vor Moral. Als Cresspahl nach Jerichow zurückkam, hatte Hilde ihre Schwester so weit, daß er Lisbeth über sein eigenes Unglück trösten mußte. Jetzt wäre sie mitgegangen zum Bahnhof, hätte er es gesagt.

11. November, 1967 Sonnabend, Tag der Kriegsveteranen
    Beim amerikanischen Telefon, da mag Karsch sich ein R für etwas anderes als eine 7 vormachen lassen, aber er hat nicht übersehen, daß die Post hier nicht austrägt, wenn die Teilnehmer vergangener Kriege marschieren. Sein Brief wurde überreicht durch einen Mann in der Uniform eines Chauffeurs. Der Mann wartete keinen Moment auf ein Trinkgeld, verriet mit keiner Miene, daß er in besser erhaltene Häuser zu kommen gewohnt ist. Der Brief ist nicht von Karsch. Es ist eine schriftliche Aufforderung der Italienischen Delegation bei den Vereinten Nationen an die Wächter, die Trägerin dieses Papiers und ein Kind den Diensteingang passieren zu lassen, unterzeichnet von Dr. Pompa. Auf der Visitenkarte, die Karsch beigelegt hat, fehlt vor dem Namen der Punkt, mit dem Karsch wie der Feldherr Narses ihre Schriftstücke entwerten, und wenn Karsch es so haben will, werden wir es ihm geben.
    Der Bus 104 fährt von uns den Broadway hinunter und über die 42. Straße nach Osten zu den Vereinten Nationen. Marie zieht die Plätze auf der hinteren Querbank vor, weil sie die Fenster zur Seite haben, und bis in die siebziger Straßen behält sie den westlichen Bürgersteig des Broadway im Blick, auf der Suche nach Kindern, Passanten, Polizisten, die sie kennt. Marie hat ohne Widerrede ein Kleid angezogen, fast sich gedrängt zu der Einladung. - Nur damit ich deine Freunde alle kenne: hat sie gesagt. Sie war noch nie in den Vereinten Nationen, wo sie für Publikum gesperrt sind.
    Die Regierung will an Thailand für etwa 50 Millionen Dollar Luftabwehrraketen verschenken, wenn Thailand 10 000 Soldaten nach Viet Nam schickt.
    Dr. Gallup hat sich schon wieder unter die Nation gemischt und sie befragt. Jetzt hat er erfahren, daß von hundert neunundfünfzig für eine Fortsetzung des amerikanischen Krieges in Viet Nam sind.
    Gestern abend wollten die Brüder Thomas und James D’Angelo und Frank Telleri, »Frankie Fünfhundert«, in einem vornehmen Restaurant in Ridgewood, Queens, sich zu Kalb mit Parmesankäse gekocht und Weißwein zusammensetzen. Kommt ein gedrungener Typ, schwarzer Filzhut, schwarzer Regenmantel, Brille im Gesicht, zieht eine Art Maschinenpistole hervor und schießt zwanzig bis fünfundzwanzig Löcher in die drei. Die Polizei hält den Vorfall nicht für normal sondern für eine Abrechnung innerhalb der Unterwelt.
    Marie ist enttäuscht. Die Wächter vor den Vereinten Nationen sind Amerikaner, womöglich aus der Bronx und Manhattan, die Fahrtreppen kennt sie aus jedem besseren Ubahnhof, das Restaurant wird von einer ganz irdischen Hotelfirma bewirtschaftet und nicht einmal die lange Bar ist etwas Heiliges. Herr Karsch hat es lange schwer mit dem Kind.
    Herr Pompa und Herr Karsch kommen den Wandelgang entlang wie die Zwillinge, beide sehr groß und mächtig in ihren unfeierlichen Anzügen, beide mit dem Gang von Leuten, die kleine Sachen zu zertreten fürchten, beide unwiderruflich ins Alter entschwunden und vielleicht nur noch untereinander verstehbar. Nur daß Herrn Pompa die Haut fest und behaglich im Gesicht sitzt, seine Augen fest zupacken und er sein Lächeln noch beaufsichtigt. Karsch ist ganz weich im Gesicht. Er nimmt seinen Blick in acht, er hütet sich, er will behüte nicht alles sehen. Jetzt sieht er uns.
    Ti voglio bene.
    Ti voglio bene.
    Es ist Karsch, und wir können ihn ohne Bedenken umarmen, ein Mensch, der sich in unserer Richtung verändert. Das gibt es nicht, daß man einem noch nach Jahren traut, ohne Frage, ohne Prüfung, in ganz verdachtloser Freude des Wiedersehens. Das gibt es. Das ist Karsch, der die Schultern oben behält, wenn er ein Kind begrüßt, ohne Anbiederung, ernst, fast förmlich, so daß Marie gar keinen Anfang findet für Übelnehmen. Das ist Karsch, der am Tisch als erster bemerkt, daß dies Kind kein Italienisch versteht und ohne Aufhebens umsteigt in sein druckloses Britisch, das hinwiederum Herrn Pompa nicht fremd ist. Das ist Karsch, zu dem die Kellner kommen wie die Ärzte, der zu ihnen ohne Scham mit den Fingern spricht, und mit den Händen. Das ist Karsch, der über die Flugwetterlage redet, solange Dr. Pompa anwesend ist, der nach unseren Sachen fragt, sobald der Fremde sich empfohlen hat, der

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