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Jahrestage 2

Jahrestage 2

Titel: Jahrestage 2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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37 Jahren im politischen Dienst an der Nation; vom Zustand der Nation: entzweite Machtgruppen, Parteien, Gebiete, Religionen, Rassen.
    – Was immer es war: sagt Marie: aber du warst doch dabei, wenn in einem Moment Geschichte gemacht wurde. Ob ich es jemals erleben werde?
    Marie bekommt an Historischem nur, daß der Mann sich nicht mehr zum Präsidentenamt melden will.
    So will er die zerstrittene Nation heilen. Er bedankt sich fürs Zuhören. Er wünscht eine gute Nacht. Er wünscht Gottes Segen.
    Fast alle haben es anders verstanden. Das Telefon begann zu winseln, als die Übertragung abgeschnitten war.
    Was eine menschliche Größe.
    Das wäre bei euren Kommunisten undenkbar.
    Nun wird Robert Kennedy sich aber freuen.
    Philosophisch geradezu.
    Wie kannst du von Drückebergerei reden; hast du keinen Respekt vor einem alten Mann!
    Nun wird McCarthy sich aber freuen!
    Immer haben wir ihn gehaßt, Gesine; seit heute abend ist er Gegenstand unserer Verehrung.
    Genialer Schachzug. Geniale Regie.
    Was eine moralische Größe.
    Diese Sittlichkeit, nein.
    Jetzt ist er auf der Höhe von John Kennedy.
    Es kann mit dem Krieg so schlecht nicht stehen.
    Was man früher einen guten Hausvater nannte.
    Verantwortungsgefühl.
    Das größte persönliche Opfer.
    Sechs Monate im Weißen Haus sitzen als eine lahme Ente; du tätest es nicht.
    Wir haben ihn telegrafisch um Abbitte gebeten.
    Für immer wird er zu den großen Präsidenten gehören.
    Wir telegrafieren in einem fort.
    Es gibt doch Schicksal.
    Und nicht einmal das Telefonnetz der verdammten Stadt New York bricht zusammen.
    An diesen Präsidenten werden wir denken.
     
    – Gesine: sagt Marie: Manchmal verstehst du das Land nicht, in dem wir doch leben.
    – Ja.
    – Dann fürchte ich mich.
    – Verstehst du es denn?
    – Wenn ich es von dir lernen will, nicht immer. Dann fürchte ich mich.

1. April, 1968 Montag
    Die New York Times gibt dem Präsidenten für seinen Verzicht drei große Schlagzeilen über alle acht Spalten, als sei er gestorben. Sie hat Tränen in seinen Augen beobachtet. Und wenn sie eine Meinung sagen soll, so hält sie viele für möglich: daß es ihm noch mehr darum ging, nicht zu verlieren, weder in der Partei noch in der Wahl; daß er es nicht so ernst meinte und mit einem Vertrag von Nord-Viet Nam doch gern wiederkäme als Der Präsident Des Friedens; daß ihm die Sache vielleicht zu spät eingefallen ist. Wie nennt die Times den Krieg? »Furchtbar, grausam und widerwärtig den Krieg, den Keiner will«.
    In der Č. S. S. R. ist es jetzt so, daß mitten in Prag 3000 Bürger sich versammeln dürfen, die eingesperrt, gefoltert und geächtet wurden, weil sie nicht Kommunisten waren, als die Kommunisten die Macht übernahmen. Nicht nur dürfen sie ihre Toten beklagen, sie dürfen auch für die Überlebenden eine Wiedergutmachung verlangen, und nämlich mit vollkommener Billigung von Regierung und Partei.
    Radio Moskau hat den Bombenstop des Präsidenten berichtet, nicht aber seinen Verzicht auf das Amt. Dort wird die Wahrheit ausgegeben wie eine Medizin, und zwar nach Belieben.
    Unter der Post ist ein Brief mit einem Poststempel, der nur Jerichow abgedruckt hat, mit sehr großen Briefmarken, darstellend zwei Eichen sowie auch jeweils Menschen mit Buch; mit einer Adresse in fremder Schrift.
    Verweigere die Annahme, Gesine. Return to sender.
    »Jerichow, den siebzehnten März currentis, liebe Gesine. März 1968, für alle widrigen Winde.
    Gesine du weißt nicht wer hier kommt und schreibt. Kennst mich aber. Würdest mich nicht erkennen. Bin jetzt alt, dick und schier am ganzen Leib, weiße Haare hab ich, bin schon fransig um die Augen. All das Tennis, es war umsonst. Siehst mich jetzt?
    Ich wohn nicht mehr wo du denkst. Ist auch kein Haus, bloß ein Zimmer am Markt von Jerichow. Dabei hätt ich nach Berlin gehen können und leben wie die Maden, oder sterben in einem Keller in Schöneberg. Weißt du es nun?
    Und wenn du dir vorstellst ich sprech so schottisch wie Mary Hahn in Rostock: On the spur of a moment? So wie Lisbeths Englisch war?
    Spornstreichs nämlich schreibe ich dir, denn du schreibst mir nicht, und laß es lieber. Die haben im Postamt so eine Fangliste; wenn du weißt, was das ist. Angst hab ich nicht. Wenn sie Gerda Wollenberg verknacken, weil sie mit einer Reisegenehmigung für Westdeutschland nach Italien fährt; hätt sie doch wissen sollen. Was soll ich Angst vor Schafen haben, wenn mir ein Hund in der Tasche sitzt. Bloß, ich will

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