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Jakob der Luegner

Jakob der Luegner

Titel: Jakob der Luegner Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jurek Becker
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unbekümmert freuen, verdient hat er es nicht.
    Bald kann er nicht mehr ohne die Freude leben, dann sagt ihm Jakob die Wahrheit, und dann muß er die Geschichte auf dem Revier glauben, schließlich ändert das nichts an den Russen, er muß sie glauben.
    »Nimm dich zusammen und steh auf. Und vor allem halt das Maul. Du weißt, was das heißt, ein Radio im Ghetto.
    Kein Mensch darf davon erfahren.«
    Mischa ist es so egal, was das heißt, ein Radio im Ghetto.
    Sollen es tausend Paragraphen bei Todesstrafe verbieten, sollen sie, ist das jetzt noch wichtig, wo plötzlich morgen auch noch ein Tag ist?
    »Ach Jakob …«
    Der Anführer der Wachmannschaft sieht einen langen Burschen nutzlos auf der Erde sitzen, sitzt da, ist nicht einmal zusammengebrochen, stützt sich auf die Hände und starrt in den Himmel. Er zieht sich seinen Rock straff und macht sich auf den Weg, der kleine Kerl.
    »Paß auf!« ruft Jakob und deutet mit dem Kopf in die Richtung, aus der die Gefahr würdevoll daherschreitet.
    Mischa kommt wieder zu sich, gelangt unter Menschen, er erhebt sich, weiß, was gleich geschehen wird, aber er kann nichts dagegen tun, daß sein Gesicht sich weiter freut. Er macht sich an den Kisten zu schaffen, will eine auf die Kante stellen, da gibt ihm der Anführer eine von der Seite. Mischa dreht sich zu ihm um, der Anführer ist einen Kopf kleiner als er, und es bereitet ihm einige Mühe, bis zu Mischas Gesicht hinaufzuschlagen. Es sieht beinahe ein bißchen komisch aus, nichts für die deutsche Wochenschau, eher wie ein Spaß aus der Stummfilmzeit, wenn der kleine Polizist Charlie versuchte, den Riesen mit den buschigen Augenbrauen zur Strecke zu bringen, und er müht sich ab, und der Große merkt es gar nicht. Alle wissen, daß Mischa ihn hochheben könnte und in Stücke reißen. Wenn er nur wollte. Der Anführer schlägt noch ein wenig, die Hände müssen ihm schon weh tun, er schreit irgendwelches Zeug, das keinen interessiert und gibt erst Ruhe, als ein dünner Blutstrom aus Mischas Mundwinkel rinnt. Dann zieht er seinen Rock wieder gerade, merkt sehr spät, daß er in der Aufregung seine Mütze verloren hat, hebt sie auf, setzt sie auf den Kopf, geht zurück zu seinen Leuten und läßt die abgelöste Wache hinter sich herlaufen.
    Mischa wischt sich mit dem Ärmel das Blut vom Mund, zwinkert Jakob zu und greift nach einer Kiste.
    »Los, komm«, sagt er.
    Sie heben die Kiste auf, beim Tragen wird Jakobs Ärger wieder lauter und reißt ihm fast die Zähne auseinander. Er ist nicht abergläubisch, und eine höhere Gewalt gibt es nicht, aber auf unerklärliche Weise, vielleicht nur, weil es ein wenig komisch war, hat Mischa die Schläge verdient, meint er.
    »Ach Jakob …«

    Wir wissen, was geschehen wird. Wir haben unsere bescheidenen Erfahrungen darin, wie Geschichten mitunter abzulaufen pflegen, wir haben einige Phantasie, und darum wissen wir, was geschehen wird. Mischa wird den Mund nicht halten können. Verbot hin und Verbot her, es wird kein böser Wille sein, der ihn das Schweigen brechen oder gar nicht erst versuchen läßt, keine Gehässigkeit wird es sein, um Jakob in Schwierigkeiten zu bringen, die Freude wird es sein, nichts anderes. Hört auf, euch das Leben zu nehmen, bald werdet ihr es wieder brauchen. Hört auf, keine Hoffnung zu haben, die Tage unseres Jammers sind gezählt. Strengt euch an zu überleben, ihr habt doch Übung darin, ihr kennt doch all die tausend Tricks, mit denen man den Tod ins Leere schlagen läßt, ihr habt es doch bis heute geschafft. Überlebt bloß noch die letzten vierhundert Kilometer, dann hört das Überleben auf, dann beginnt das Leben.
    Das sind die Gründe, Mischa wird den Mund nicht halten können, man wird ihn nach den Quellen fragen, er wird sie preisgeben, was ist schon dabei. Bald werden sogar die Kinder im Ghetto das große Geheimnis kennen, natürlich unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, sie werden es erfahren, wenn ihre Eltern in der Freude das Flüstern vergessen. Die Leute werden zu Jakob kommen, zu dem Radiobesitzer Heym, und wissen wollen, was es an Neuigkeiten gibt, sie werden mit Augen kommen, wie Jakob sie noch nie vorher gesehen hat. Und was bloß wird er ihnen sagen?

    Ein halber Tag ist vergangen, die großen Kisten sind in den Waggons verstaut, kleinere sind an die Reihe gekommen, solche, die ein Mann alleine tragen kann, und Jakob hat Mischa aus den Augen verloren. Das heißt, nicht direkt aus den Augen, sie sehen sich alle paar Minuten,

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