Jan Fabel 04 - Carneval
Dreißig und ein paar Stunden pro Woche. Ich hab’s ausgerechnet: Bis zu meiner Rente werde ich fast vierzigtausend Stunden an meinem Schreibtisch verbracht haben. Vierzigtausend. Irrsinn. Ich habe immer versucht, das Richtige zu tun, Herr Fabel. Immer. Was von mir erwartet wurde. Habe mich an die Spielregeln gehalten. Alles andere führt angeblich ins Chaos. Aber nichts leuchtet mir ein. Begreifen Sie? All die Dinge, die ich nie gesehen habe. Orte, an denen ich nie gewesen bin.«
Tränen liefen über Aichingers Gesicht. Fabel versuchte, seine Worte und seinen schrecklichen Kummer zu verstehen.
»Alles ist eine Illusion. Wir führen ein lächerlich kleines Leben. Wir leben in Kästen. Arbeiten in Kästen. Opfern uns für sinnlose Arbeit. Und dann … sterben wir. Einfach, weil wir glauben, dass es so zu sein hat. So etwas halten wir für Stabilität und Ordnung. Aber eines Tages bin ich aufgewacht und habe diese Welt so vor mir gesehen, wie sie ist. Wahnsinnig. Sie hat nichts Vernünftiges oder Reales oder Wesentliches an sich. Dies ist das Chaos. Dies ist die Anarchie. Gut, ich habe es getan. Ich habe alles auf den Kopf gestellt. Auf den Kopf. Dies bin nicht ich. Sie müssen mir glauben. Ich will kein Teil mehr davon sein.«
»Das verstehe ich nicht.« Fabel streckte langsam die Hand aus. »Geben Sie mir das Gewehr, Georg. Sie können es mir erklären. Wir können darüber sprechen und die Dinge in Ordnung bringen.«
»In Ordnung bringen?« Aichinger lächelte traurig. Fabel hatte den Eindruck, dass sein Lächeln eine unverfälschte, doch betrübte Dankbarkeit enthielt. Aichinger schien sich zu entspannen. Der Daumen am Abzug war weiterhin ruhig. »Ich bin froh, dass Sie es waren, Herr Fabel. Wenn Sie über meine Worte nachdenken, werden Sie sie bestimmt verstehen. Sie tun wenigstens etwas. Wenn Sie morgens aufwachen, finden Sie einen gewissen Sinn, eine Bedeutung in Ihrem Leben. Sie retten Menschen. Beschützen Menschen. Ich bin froh, dass ich es Ihnen erklären konnte. Sagen Sie … sagen Sie allen, dass ich nicht mehr damit leben konnte, ein anderer zu sein. Dass es mir leid tut.«
Der Schuss wurde durch das Fleisch gedämpft, das sich unter Aichingers Kinn an den Lauf presste. Eine Fontäne aus Blut, Knochenfragmenten und Hirngewebe stieg durch Aichingers Schädeldecke auf, und seine Beine knickten unter ihm zusammen.
Fabel sprang über die Leiche hinweg und stürmte ins Wohnzimmer. Auf die winzigen Füße an der Tür zu.
2.
Ansgar Hoeffers Mahlzeit war fast fertig.
Sein Haus im Kölner Bezirk Nippes war bescheiden, doch aufgeräumt und peinlich sauber. Aber es wurde von niemandem geteilt oder besucht. Im Lauf der Jahre hatte er sich allmählich zurückgezogen. Sein Leben spielte sich zu Hause, an seinem Arbeitsplatz und auf der Fahrt zwischen beiden ab. Oft kam ihm sein Leben wie ein großes Landhaus vor, in dem nur ein paar Zimmer benutzt und perfekt in Ordnung gehalten wurden, während die übrigen – mit heruntergelassenen Rollläden und in der Dunkelheit verhüllten Möbeln – verschlossen waren. Ansgar wusste, dass man diese Zimmer am besten nicht betrat.
Die Küche in Ansgars Haus war, wenn man seinen Beruf bedachte, überraschend klein, doch erwartungsgemäß gut ausgestattet. Makellos und durch das große Fenster, das auf seinen schmalen Garten und die kahle Seitenmauer des Nachbarhauses hinausblickte, mit Licht überflutet.
Der Herd klingelte. Das Fleisch war gar.
Zu Hause kochte Ansgar am liebsten einfachere Mahlzeiten. Unkomplizierte Gerichte, bei denen die wahre Substanz und der Eigengeschmack des Fleisches klar zum Ausdruck kamen. Wie immer hatte er alles vortrefflich aufeinander abgestimmt. Der auf dem Herd siedende Spargel hatte genau die richtige Beschaffenheit. Ansgar nahm das Schüsselchen mit Apfelmus aus dem Kühlschrank. Wenn er das Fleisch und den Spargel auf den Tisch stellte, würde es die perfekte Temperatur erreicht haben – frisch, doch nicht kalt. Er goss eine halbe Flasche Gaffel Kölsch in ein Glas und achtete darauf, dass die Schaumkrone genau die richtige Größe hatte. Dann zog er das Backblech aus dem Ofen und wickelte das Filet aus der Folie. Sich vorbeugend schnupperte er den köstlichen Geruch des zarten, mit Thymian gewürzten Fleisches, wobei seine Brillengläser kurz beschlugen. Er tat das Fleischstück auf den Teller und garnierte es mit einem frischen Zweig Thymian und etwas Apfelmus. Danach goss er den Spargel ab und legte die Stangen akkurat
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