Jan Weiler Antonio im Wunderland
Selbstbewusstsein und Fürcht vor dem Wertverlust seines Hauses, der sicher beträchtlich sein würde, wenn Italiener in der Nachbarschaft wohnten.
Munter hektographierte seinen Aufruf, fremdländische Hausbesitzer gemeinsam und im Sinne einer friedlichen Nachbarschaft nicht zu dulden, und es unterschrieben 41 der 103 Eigenheimbesitzer, die es im Viertel damals gab. Die rest-lichen waren entweder politisch irgendwie nicht in Ordnung, oder sie öffneten nicht, aus Angst vor Ausländern, die ihnen an der Haustür etwas andrehen wollten.
Der Tag, an dem Ursula gefragt wurde, ob sie unterschrieb, war der letzte, an dem sie in dem Supermarkt der Siedlung einkaufen ging. Drei Monate wohnten sie hier, inzwischen hatten sie sogar eine Haustür. In den ersten Wochen hatte Antonio abends den Eingang mit einem Brett und einer davor angelehnten Schubkarre gesichert. Sie aßen an einem Esstisch, den Antonio per Ratenzahlung gekauft hatte und der auf dem Estrich stand. (Das Stabparkett kam erst viereinhalb Monate später, Folge der suboptimalen Zeitplanung des Bau-herrn). In dem Supermarkt gab es drei Sorten Nudeln: Spiral-nudeln, Buchstabensuppe und Spätzle. Antonio konnte diese Eiernudeln nicht ausstehen, aber er beschwerte sich nicht, 30
wenn Ursula abends für ihn kochte und sie gemeinsam auf die unverputzten Wände ihres Rohbaus guckten. Antonio war der glücklichste Schichtarbeiter der Welt, aber Ursula war deprimiert. Sie konnte an ihrem Kleid herumklopfen, soviel sie wollte, immer hing Dreck darin. Sie konnte ihre Töchter zur Höflichkeit erziehen, trotzdem ließen die anderen Mütter ihre Kinder nicht mit Lorella und Sara spielen.
Ursula stand also im Supermarkt an der Wursttheke, um Salami (Mortadella gab es damals noch nicht) zu kaufen, jeden Dienstag brauchte sie hundert Gramm davon für Antonios Pausenbrote. Und dann gab ihr die Verkäuferin ein Blatt Papier über die Theke und sagte: «Unterschreiben Sie doch auch, sonst wird aus dieser Gegend eines Tages noch Klein-Neapel.» Ursula las die Unterschriften beinahe jeden Nachbars auf der Liste, und dann fing sie an zu weinen. Die Verkäuferin verstand nicht, bis Ursula sagte: «Damit sind doch wir gemeint.» Sie ließ ihren Einkaufswagen stehen und verließ das Geschäft ohne Salami. Abends zeigte sie Antonio das Papier, und nachdem sie ihm erklärt hatte, was es bedeutete, ging sie ins Bett, ohne noch ein Wort zu sagen.
Antonio regelte die Angelegenheit auf seine Weise, indem er im Umkreis Hundekacke einsammelte und in der Unter-schriftenliste verpackte. Dann durchnässte er das Päckchen mit Brennspiritus, legte es vor Münters Haustür und zündete es an. Er klingelte und trat einige Meter zurück. Münter öffnete die Tür, sah Antonio, sah das brennende Papier und trat das Feuer mit den Hausschuhen aus. Die beiden Männer wechselten danach nie mehr auch nur ein einziges Wort.
Antonio hat den Fernseher angemacht, denn heute ist Autorennen, und Antonio liebt es, sich stundenlang anzusehen, wie fossile Brennstoffe vernichtet werden. Natürlich ist die 31
Kombination aus überlegener italienischer Technik und der brillanten fahrerischen Intelligenz des deutschen Piloten eine unschlagbare Mischung.
«Der putzte die alle ab», frohlockt Antonio.
«Was macht der bitte?», frage ich ungläubig.
«Der Schumackä putzte die alle ab.»
«Der putzt die alle weg, meinst du.»
«Sagi doch.»
Gegen Ende des Rennens klingelt es an der Tür. Sara besucht eine frühere Schulfreundin, und Ursula hat sich hingelegt. Antonio ist über dem Rennen eingeschlafen, daher gehe ich zur Tür, um zu öffnen. Vor mir steht ein hagerer Mann in einer grünen Trevirahose. Er trägt ein hellblaues T-Shirt, auf dem «Volkslauf 1987» steht. Er hat eine verknitterte Plastiktüte in der Hand und sieht mich an, als habe er mir die Tür aufgemacht.
«Guten Tag?», sage ich.
«Wer bis' du denn?», fragt der Mann und schiebt sich an mir vorbei ins Gästeklo, wo er sich einschließt, ohne meine Antwort abzuwarten. Das muss Benno sein, denke ich und mache die Haustür zu. Benno ist Antonios bester Freund, wahrscheinlich sogar sein einziger. Sara hat mir schon eine Menge von ihm erzählt. Seit ihrer Kindheit taucht Benno zwei-oder dreimal in der Woche bei den Marcipanes auf. Er sitzt am Esstisch und sagt: «Jaa, so is' dat» oder auch «Wat will'se machen? Kansse nix machen». Antonio wollte Benno sogar früher in den Urlaub mitnehmen, aber das war selbst den Kindern zu viel. Sie drohten,
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