Jennerwein
– und stand da, mitten im Pulverrauch. Spürte den Rückstoß der Büchse in der Schulter nachhämmern – und sah drüben den Jennerwein bäuchlings über den Wurzelstrunk stürzen. Hatte getan, was im Krieg erlaubt gewesen – und jetzt aufgrund eines ganz anderen Gesetzes verboten war.
Der dritte Hieb traf ihn daraufhin mental und körperlich zugleich. Johann Pföderl brach zusammen, wußte nichts mehr von der Welt; wollte nichts mehr wissen von ihr.
*
Mit dem Mittagsläuten, das dünn heranwimmerte, von Rottach her, kam er wieder zu sich. Den Blick ruckte es ihm zur Leiche hin, als hinge sein Schädel an Marionettenfäden. Über dem blutversudelten Rücken des Georg Jennerwein schwirrten bereits die Fliegen. Johann Pföderl, auf den Knien, auf den Ellenbogen, kroch hin; wie von etwas Unsichtbarem gezwungen. Drang ein in den Blutbrodem, ins Insektenschillern, berührte den Kadaver, rüttelte an ihm. Fuhr, als ihm das Unausweichliche endgültig bewußt wurde, würgend zurück. Kotzte ins Unterholz hinein, bis bloß noch Galle kam. Und aus dem Gallebitteren heraus drang ihm die volle Erkenntnis ins Gehirn.
Nicht nur der Jennerwein war tot, sondern, wenn es herauskam, auch er, der Pföderl! Einen Meuchelmord hatte er begangen, hinterrücks. Köpfen würden sie ihn dafür in der Residenz, in München. Wie ein Wurm würde er sich erneut krümmen müssen, bis ihm dann das geschliffene Eisen höhnisch ins Genick fuhr.
Die Todesangst, die ungeheuerliche Scham dazu trieben Johann Pföderl zurück zur Leiche. Zwischen glasklarem Planen und dumpfem Trieb changierte ihm jetzt das Denken. Den Toten wälzte er auf den Rücken, vermied dabei, so gut er konnte, den Blick in die erloschenen Augen, griff dann nach dem Stutzen Jennerweins, der mit aufgezogenen Hähnen noch immer am Baumstumpf lehnte. Die Mündung der Waffe drückte er unters Kinn des Schlierseers, dessen Zahn dabei plötzlich wie höhnisch wieder bleckte. Um den Abzugsbügel versuchte Johann Pföderl sodann den Zeigefinger des Ermordeten zu krümmen, schaffte es jedoch nicht; der Büchsenlauf war länger als der Arm. Der Tegernseer keuchte in seiner eiskalten Panik, heulte, rotzte – und erinnerte sich gleichzeitig an einen Selbstmord, von dem er einmal beim Militär gehört hatte.
Den rechten Schuh zog er dem Blutbesudelten aus, zerrte und bog ihm das Bein gegen den Leib herauf, zwängte ihm den großen Zeh zwischen Handbügel und Stecher der Waffe. Richtete den Doppellauf noch einmal aus gegen die Kinnlade des jetzt doppelt Geschändeten – und löste, fiebrig, zittrig, selbst den Schuß aus.
Hatte den Stutzen aber verrissen im eigenen, fast epileptischen Angstschütteln. In die Tannenbärte fetzte die Kugel hinein; dem Jennerwein drückte der Explosionsschlag bloß jäh den Kopf zur Seite.
Das zweite Geschoß jedoch traf. Brüllend hatte Johann Pföderl die allerletzten seelischen Schranken überwunden und noch einmal abgedrückt. {89} Der Unterkiefer des Georg Jennerwein schien wegzuplatzen. Seine Schädeldecke zersplitterte. Aus den Augenhöhlen, aus den Wangen trieb ihm der ungeheuerliche Hieb das Weiche, das Nachgiebige heraus.
Mit Hilfe des Quentchens Kraft, das ihm noch verblieben war, vergewisserte sich Johann Pföderl, daß der große Zeh des Kadavers noch immer an Ort und Stelle war. Dann floh der Jäger, der Korporal, der Meuchelmörder, hetzte hinein in den scheinbar bergenden Forst und wußte, im verzweifelten Herzstechen, doch, daß ihm Geborgenheit nie wieder vergönnt sein würde.
Epilog
Der Tegernseer Jagdgehilfe Simon Lechenauer hatte an jenem 6. November 1877 die Schüsse am Peißenberg aus der Ferne vernommen. Zuerst den einzelnen, dann – ungefähr zweieinhalb Stunden später – die beiden anderen. Hatte sich aber nicht viel gedacht dabei, hatte angenommen, ein Jagdpächter aus München sei drüben im Schlierseer Revier unterwegs gewesen.
Auch auf der Unterschwaig und in Westenhofen schöpften die Freunde und Arbeitskameraden des Georg Jennerwein zu diesem Zeitpunkt und dann in den folgenden Tagen noch keinen Verdacht. Allgemein glaubte man, der Abgängige halte sich noch immer in Tölz auf. Erst als bekannt wurde, daß Georg Jennerwein an der Leonhardifahrt überhaupt nicht teilgenommen hatte, wurde man am Nordufer des Schliersees unruhig und stellte zuletzt einen Suchtrupp zusammen. An die hundert Holzknechte, Bauernburschen und Gütler durchkämmten das Waldgebirge zwischen den beiden Seen. Am 13. November {90}
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