Jenseits aller Tabus
versnobten Gäste nannte.
Trotz der Hitze trug Richard ein elfenbeinweißes Hemd mit langen Ärmeln. Nur der oberste Knopf stand offen. Im Gegensatz zu Jack Caruso besaß sein Teint eine natürliche Sonnenbräune, die seine Attraktivität unterstrich. Er hatte seine schwarzen Haare zurückgegelt und im Nacken militärisch kurz rasiert. Eine dunkle Strähne fiel ihm ins Gesicht und verlieh ihm etwas Verwegenes. Seine breiten Schultern ließen darauf schließen, dass er Gewichte stemmte.
Aber sein gutes Aussehen war nicht das, was Lucille anzog, sondern es faszinierte sie, wie er sprach, der samtige Ton seiner Stimme, so sexy und warm, die Art, wie er sich elegant und fließend auf den Hocker neben seinen Partner setzte, das anzügliche Leuchten in seinen Augen, diese stumme Art mit ihr zu flirten, nicht so aufdringlich wie Caruso, sondern so dezent und gekonnt, dass Lucille sich seinem Charme unmöglich entziehen konnte.
»Unsere Lucille ist bestimmt eine Globetrotterin.« Caruso stützte sich mit den Ellbogen auf der Theke ab und schlang seine Finger ineinander. »Eine Backpackerin auf der Suche nach Abenteuern.«
»Nein, nein, du hast keine Ahnung von Frauen, mein Freund. Lucille ist bodenständig. Sie ist auch keine von den jungen Dingern, die hierherkommen, um sich einen reichen Mann zu angeln.«
»Leider nicht.« Caruso lachte herzlich, trank einige Schlucke seines Cocktails und musste husten.
»Das hier ist nur ein Sommerjob für sie«, führte Richard seine Vermutungen weiter aus. »Kommen Sie, Lucille, sagen Sie schon, dass ich richtigliege.«
»Ich bin Studentin, äh, war«, korrigierte sie sich rasch. »Ich bin gerade mit dem Studium fertig geworden.«
Verdutzt richtete sich Caruso auf. »Wow, woher wusstest du das?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Man sieht, dass sie etwas im Köpfchen hat.«
Unmerklich knirschte Lucille mit den Zähnen und wischte mit einem feuchten Tuch über die Arbeitsfläche, nur um etwas zu tun zu haben. Es freute sie natürlich, dass man sie für intelligent hielt, aber das Attribut »Schönheit« brachte niemand auf den ersten Blick mit ihr in Verbindung.
Bis auf ihre roten Haare war sie eher von unscheinbarer Natur, und ihr schulterlanger Schopf war nicht einmal so flammend wie der Sonnenuntergang in Acapulco, sondern brachte die Augen der Betrachter ebenso zum Tränen wie die Trikots des Football-Clubs Houston Dynamo. Ihre Brüste füllten nur ein B-Körbchen, sie waren ebenso zu flach wie ihr Hintern. Ihrer zierlichen Figur fehlten die Rundungen an den entscheidenden Stellen, durch die Sommersprossen wirkte ihr kleines Gesicht kindlich, und niemand schätzte sie auf vierundzwanzig. Regelmäßig musste sie ihre ID-Card vorzeigen, wenn sie für Kassandras Kitchen Alkohol einkaufte, den Alfie zum Backen oder für seine Kaffeekreationen brauchte.
Richard nahm den Cocktail seines Freundes, hielt den Trinkhalm beiseite und nippte am Glasrand. » Sex on the beach .«
Als Caruso einige Minuten zuvor den Namen des Getränks ausgesprochen hatte, hatte es Lucille fast angewidert, doch aus Richards Mund klang die Bezeichnung sinnlich. Sie spürte, wie Hitze in ihre Wangen stieg, und legte das Tuch verlegen weg, da die Arbeitsplatte nicht sauberer werden konnte.
»Den haben Sie sehr gut gemixt, Lucille.« Er stellte das Glas zurück auf den Untersetzer und schmunzelte, weil Caruso die Augen verdrehte und mit den Lippen lautlos das Wort »Süßholzraspler« formte.
»Was haben Sie denn studiert?«, fragte Richard und nahm einen Cracker aus einer der Silberschalen, die gefüllt auf der Arbeitsfläche standen und darauf warteten, zu den Tischen gebracht zu werden, sobald ein neuer Gast erschien.
Lucille beeilte sich, eine Schale vor Richard und Caruso zu stellen, weil sie das bisher versäumt hatte. In Richards Gegenwart kam sie sich klein und unbedeutend vor. Es gab nichts, mit dem sie einen Mann wie ihn beeindrucken konnte. »Gartenbau und Landschaftspflege.«
»So etwas kann man an der Uni lernen?« Überrascht lehnte er sich zurück. »Einen Baum pflanzen kann doch jeder.«
Lucille wusste, dass Gartenbau nur die kleine Schwester der Landschaftsarchitektur war, aber sie kannte ihre Grenzen. Finanziell konnte sie sich ein Aufbaustudium einfach nicht leisten. Sie musste dringend Geld verdienen. Ihr fehlte die Kraft, das Pensum – Lernen und nebenher Kellnern zu gehen – über weitere Jahre aufrechtzuerhalten. Sie hatte sich nicht einmal mit einem Urlaub belohnen können.
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