Jesuslatschen - Größe 42
Santiago gepilgert ist.
Mein Pilgerpass, als Nachweis, ist lückenlos abgestempelt, und weist in Summe
etwa 700 Kilometer aus. Nach den Formalitäten fragt mich die Señorita, ob ich
glücklich sei. „ Jaaaa ...“, antworte ich freudig. Sie
wünscht mir in gebrochenem Deutsch weiterhin viel Glück, während sie mir die
„Compostela“ überreicht. Bevor ich heute das erste Mal die Kathedrale betrete,
möchte ich noch Impressionen von den Menschen hier einfangen. Und bis zur
Pilgermesse um 12:00 Uhr ist noch Zeit.
Ständig
kommen neue an, Buspilgertouristen treffen in Intervallen hier ein. Die Harfe
beginnt an der Ecke zu harfen und der Dudelsack unter dem Pilgertor zu dudeln.
Verzeiht ihr Musiker, wenn ich euch unrecht tue. Aber so erlebe ich das
Erwachen von Santiago de Compostela. Im Umfeld der Kathedrale öffnen die
Souvenirshops, pünktlich mit den eintreffenden Pilgern. Es ist nicht zu
leugnen, das Ganze ist auch ein großes Geschäft.
So,
nun ist es soweit, ich werde in die Kathedrale gehen. Die weite Treppe am
Mittelportal gibt Raum. Noch mehr Raum birgt das Innere der Kathedrale,
jedenfalls nach oben hin. Einige Menschen warten an einer Säule unweit des Eingangs.
Etwas verhalten beobachte ich die sich wiederholenden Abläufe an der Säule.
Diese Zeremonie erklärt mir ein deutsches Paar. Diese Säule symbolisiert die
Wurzel des Lebensbaumes Jesu Christi und der gesamten Menschheit. Sie heißt „ Arbol de Jese “. Auf dem Stumpf
des Stammbaumes sitzt der Apostel Jakobus.
Als
ich an der Reihe bin, lege ich meine Hand auf eine bestimmte Stelle in der
Säule. Seit etwa tausend Jahren wird diese Säule von bislang mehreren Millionen
Pilgern an immer genau dieser Stelle berührt. Dadurch haben sich fünf tiefe
Mulden gebildet, welche, wie eigens dafür geformt, die fünf Finger der Hand
aufnehmen und förmlich in der Säule verschwinden lassen. Meine Hand ruht auf
dieser Stelle, die Gedanken sind zu Hause bei meiner ganzen Familie. Jeder von
ihnen ist auch ein Teil dieses Stammbaumes.
Mit
der Stirn berühre ich den Kopf des Baumeisters Mateo, dessen Abbild in den
Stein eingearbeitet ist. Ich danke ihm und den Steinmetzen dieser Zeit auf
meine Art. Der Hauptplatz vor der Kathedrale ehrt mit seinem Namen die
Steinmetze. „ Praza do Obradoiro“ heißt aus dem Galicischen
übersetzt „Platz der Werkstätten“. Als Erinnerung der zahlreichen
Steinmetz-Werkstätten während des Baues der Kathedrale.
Die
Menschenströme hier drinnen werden regelrecht gelenkt, am Grab des heiligen
Jakob regelt sogar eine Ampel den Verkehr. Auf dieser dicht begangenen
Kirchenschiffkreuzung stelle ich mir lebhaft einen Geistlichen mit einem
leuchtenden Verkehrsstab vor. So einen beleuchteten Regulierstab, wie ihn
seinerzeit mein Freund Hans in Prag aus dem fahrenden Auto gehalten hat.
Je
mehr die Heilige Pilgermesse naht, umso dichter wird das Gedränge der Leute
rings um die Heiligtümer. Es ist ein seltsam geordnetes Chaos, in engen
Schritten folgen die Menschen sich selbst. Die Glocken der Kathedrale beginnen
zu läuten. Das so vertraute festliche Geläut des Merseburger Domes schwingt in
mein Bewusstsein und überlagert sich mit den tatsächlichen Schwingungen.
Klänge,
Schwingungen, letztendlich Musik.
Die
Sitzreihen im Hauptschiff der Kirche sind den neu angekommenen Pilgern
vorbehalten. Durch zu langes Zögern finde ich nur einen Platz in einer der
hinteren Reihen. Davon abgesehen, viele Menschen müssen die Messe im Stehen
verfolgen, da die Plätze längst nicht ausreichen.
Kurz
vor 12:00 Uhr werden alle Portale der Kathedrale geschlossen. Langsam sollte es
still werden in diesem Raum. Ein Scharren, Suchen und Husten verhindert dieses.
Warum schaffen es die Anwesenden nicht, gerade jetzt zur Ruhe zu kommen? Solche
Momente sind für mich etwas Spirituelles, man kann in mir eine Stecknadel
fallen hören. Als die Orgeln zu spielen beginnen, geht ganz unerwartet ein
Wunsch in Erfüllung, der erst auf dem Weg entstanden ist. Die doppelte Orgel in
der Kathedrale von Mondonedo hatte es mir angetan.
Noch vor einigen Tagen hatte ich den bescheidenen Wunsch, ihren Klang zu hören.
Von beiden Seiten tönt nun die „Stereoorgel“ von Santiago mit ihren quer ins
Kirchenschiff ragenden Trompetenpfeifen direkt in meine Ohren. Der liturgische
Gesang einer Nonne bringt die Luft in einer sehr hohen Frequenz zum Klingen. Im
Verlauf der Messe lösen sich Gebete und Lieder ab, Zeit um in die Reihen zu
schauen.
Ein
Trio fällt mir
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