Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
einer Weile änderte sich das Licht. Es wechselte in ein leuchtendes Grün hinüber und wurde ausgestrahlt von einem ganzen Wald riesiger Smaragde, die wie gewaltige Eiszapfen von der Decke der Höhle fast bis auf die Wasseroberfläche herunter hingen. Einige Zeit später zog der Fluß durch eine niedrige, langgestreckte Grotte, in der violette Beleuchtung herrschte, hervorgebracht von Millionen feinster Amethystkristalle, die wie Moos die Felswände überzogen. Dann wieder durchquerten sie eine Halle, die in hellstem Glanz erstrahlte, so daß die Kinder fast die Augen schließen mußten. Dort hingen gewaltige Trauben von klaren, blitzenden Diamanten an der Decke wie Hunderte von Kronleuchtern.
So ging es immer weiter. Die Kinder hatten längst aufgehört zu schwatzen. Anfangs flüsterten sie sich noch hin und wieder etwas zu, aber schließlich verstummten sie ganz und versanken völlig im Anschauen dieser unterirdischen Wunderwelt. Manchmal trieb die Strömung die Lokomotive so nahe an die Wände der Höhlen heran, daß jedes der Kinder sich ein paar Juwelen abbrechen und zur Erinnerung mitnehmen konnte.
Wie viele Stunden so vergangen waren, hätte wohl niemand von der Reisegesellschaft sagen können, als Lukas bemerkte, daß die Strömung plötzlich wieder beträchtlich zunahm. Die Felswände rückten enger und immer enger zusammen und nahmen allmählich eine rote Färbung an, hin und wieder von breiten weißen Streifen und Zickzacklinien unterbrochen. Zugleich wurde das farbige Zauberlicht immer schwächer, denn es gab keine Edelsteine mehr. Schließlich war es stockdunkel wie zu Anfang der unterirdischen Reise. Nur noch ganz selten blitzte der Strahl eines vereinzelten Kristalls durch die Finsternis. Dann hörte auch das auf. Das Wasser begann wieder zu gurgeln und zu zischen, und die Reisenden machte n sich schon auf eine neue Sturzfahrt in noch tiefere Tiefen gefaßt.
Aber diesmal stand ihnen eine sehr viel erfreulichere Überraschung bevor. Zum zweitenmal durchführen sie ein Felsentor, und auf dem schäumenden Wasser schoß Emma mit ihren Passagieren und dem Drachen im Schlepptau ins Freie hinaus!
Eine wunderbare klare Sternennacht empfing sie. Der Fluß zog jetzt in einem breiten Bett ruhig und majestätisch dahin. Zu beiden Seiten waren die Ufer von gewaltigen, uralten Bäumen eingesäumt. Ihre Stämme waren durchsichtig wie farbiges Glas! Der Nachtwind rauschte in den Zweigen, und zugleich war von überall her ein zartes Klingen zu hören wie von abertausend winzigen Glöckchen. Und nun glitt die Lokomotive unter einer Brücke hindurch, die sich in zierlichem Bogen über den Fluß spannte - eine Brücke aus schimmerndem Porzellan!
Fassungslos vor Staunen blickten die Reisenden umher. Die erste, die schließlich ihre Sprache wiederfand, war die kleine Prinzessin Li Si.
»Hurra!« rief sie, »das ist Mandala! Wir sind in meinem Land! Jetzt sind wir gerettet!«
»Aber das kann doch nicht sein!« sagte Jim. »Von Mandala nach Kummerland haben wir viele Tage gebraucht, und jetzt sind wir doch höchstens ein paar Stunden unterwegs.«
»Kann mir’s auch nicht denken«, brummte Lukas verdutzt.
»Wenn das nur keine Täuschung ist!« Jim kletterte auf den Schornstein, um bessere Aussicht zu haben. Forschend betrachtete er die ganze Gegend, dann schaute er zurück. Das Felsentor, aus dem sie vor ein paa r Minuten gekommen waren, befand sich am Fuße eines gewaltigen Gebirges, das sich quer durch das ganze Land zog. Jeder einzelne Gipfel war rot und weiß gemustert. Es gab keinen Zweifel mehr, es war »Die Krone der Welt«.
Jim stieg vom Schornstein herunter und sagte langsam und beinahe feierlich zu den Kindern, die ihn erwartungsvoll anstarrten:
»Wahrhaftig, wir sind in Mandala!«
»Jim!« jubelte die kleine Prinzessin, »o Jim, ich freue mich, ich freue mich, ich freue mich!«
Und da sie gerade neben ihm stand, gab sie ihm vor lauter Freude einen Kuß auf den Mund. Jim stand wie vom Blitz gerührt.
Die Kinder lachten und schrieen und umarmten einander, kurz, sie tobten so, daß Emma ganz bedenklich zu schwanken anfing und beinahe umgekippt wäre, wenn Lukas nicht zur Ruhe gemahnt hätte.
»Ich kann mir die Sache nur so erklären«, sagte er zu Jim, als Emma wieder ruhig dahinschwamm, »daß wir unterirdisch ein ganz mächtiges Stück Weg abgekürzt haben. Was meinst du, Jim?«
»Bitte?« fragte Jim. »Hast du was gesagt?« Und er bemühte sich sichtlich, seine fünf Sinne wieder in ihre richtige
Weitere Kostenlose Bücher