John Puller 01 - Zero Day
Immer das Feuer. Auf gewisse Weise nur an das Feuer. Gummi, Metall und Menschenfleisch verbreiten einen unvergleichlichen Geruch, wenn sie zusammen in Flammen stehen. Es ist ein Gestank, der sich bis in die DNA einbrennt. Er wird auf ewig Teil des Menschen. Bei Puller ist er für alle Ewigkeit ein Teil von ihm geworden.
Da der rechte Unterarm zerschmettert ist, schießt er mit dem linken, den Kolben des Sturmgewehrs in die Achselhöhle gedrückt. Normalerweise wäre es für einen Rechtshänder schwierig, mit der Linken den Abzug zu betätigen, aber er ist für genau diesen Augenblick ausgebildet worden. Er hat Schweiß, Blut und Tränen für ebendiese Sekunde vergossen. Er ist Beidhänder geworden und kann mit nahezu gleicher Geschicklichkeit nach zwei Seiten schießen. Dieseltreibstoff tränkt seine Uniform. Sein Infanteriehelm ist davongeflogen, fortgerissen von der Gewalt der Explosion. Bevor der Helmgurt aus dem Humvee schoss, versengte er ihm das Kinn. Puller schmeckt Salziges. Sein Blut und das Blut seiner Kameraden. Ihm kleben Klümpchen menschlichen Gewebes im Gesicht. Sie stammen von ihm selbst und von Kameraden.
Die Sonne scheint so heiß, dass man glauben könnte, ihre Glut genügte, um den Sprit zu entzünden und Puller in Asche zu verwandeln. Vielleicht trennen nur wenige Grad Celsius ihn vom Verbrennen bei lebendigem Leib.
Er schätzt die Lage ein: Oben, unten, draußen, drinnen und in sämtlichen relevanten Himmelsrichtungen. Sieht schlecht aus. So etwas sieht nie gut aus. Zwei tonnenschwere Humvees sind durch die Detonation auf die Seite geworfen worden und liegen da wie gefällte Nashörner. Trotz der Bodenpanzerung sind vier seiner Männer tot oder tödlich verwundet. Nur er ist noch bewegungsfähig. Dafür gibt es keinen einleuchtenden Grund. Es ist Glück, sonst nichts. Keiner der Toten und Sterbenden hatte etwas Böses getan. Und er hatte nichts besonders Gutes getan.
Die ISAF hat einen herben Schlag erlitten. Die Terroristen wurden besser. Wenn die Amerikaner die Panzerung verstärkten, bastelten die feindlichen Bombenbauer zum Ausgleich stärkere Sprengkörper.
Er bestreicht die Umgebung mit Kugeln aus dem Sturmgewehr, leert zwei Magazine, lässt das Gewehr fallen, zerrt die Pistole heraus und schießt auch ihr Großmagazin leer. Mit diesem Geballer verfolgt er nicht die Absicht, die Gegner zu töten, er will nur ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie wissen lassen, dass er noch da ist. Ihnen zeigen, dass sie nicht einfach kommen und ihn mitsamt seinen Männern vernichten können. Dass es nicht leicht wird. Nicht einmal ratsam ist, den Versuch zu unternehmen.
Die nächste Waffe, die Puller aus dem Humvee-Wrack zieht, ist seine Lieblingskugelspritze: Das Kammerverschluss-Scharfschützengewehr der Armee. Jetzt wird er mit mehr Überlegung und größerer Sorgfalt schießen. Er benutzt das Metall des Humvee als Auflage. Er will beweisen, dass er es ernst meint.
Er gibt einen Schuss ab, um den Gewehrlauf anzuwärmen. Egal, was für ein guter Schütze man ist, oft verfehlt ein kalter Lauf das Ziel. Üblicherweise haben Scharfschützen zur Unterstützung Beobachter dabei, doch solcher Luxus steht ihm momentan nicht zur Verfügung. Deshalb überschlägt er im Kopf neben anderen Faktoren das Fadenkreuz-MilDot-Absehen, Kaliber, den Schusswinkel, die Entfernung, Schaftsenkung, Umgebungstemperatur und Windgeschwindigkeit und nimmt am Zielfernrohr die erforderlichen Einstellungen vor. Er vollzieht die Berechnungen automatisch, ohne wirklich nachzudenken, so wie ein Computer einen längst erprobten und bewährten Algorithmus anwendet. Je weiter der Schuss geht, umso mehr summieren sich kleine Rechenfehler. Ein Zentimeter hier oder da bedeutet, dass man auf große Distanz um Meter am Zielobjekt vorbeischießt. Er hat es auf atmende Weichziele abgesehen, die geduckt in Sprüngen die Straße überqueren. Diese Männer sind sehnige Gestalten und können einen ganzen Tag lang laufen. Kein Gramm westlichen Fetts belastet ihren Leib. Sie sind abgehärtet und brutal; das Wort Gnade gehört nicht zu ihrem Wortschatz.
Aber auch er ist hart und brutal, und der Begriff Gnade zählt nicht mehr zu seinem Vokabular, seit er die Uniform angezogen hat. Die Regeln des Kampfes sind klar, sind immer klar gewesen, seit Menschen erstmals Waffen gegen Menschen erhoben.
Er atmet ganz ruhig ein und gedehnt aus, erreicht den für einen Scharfschützen unabdingbaren idealen körperlichen Ruhezustand. Um eine Abweichung des
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