Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
wiederholen.
George Santayana
Am Anfang dieses Buchs erwähnte ich einen jungen Berliner, den ich Jürgen II. bzw. Jörg nannte und dessen unglückselige Geschichte vierzehn Seiten des
Selbstporträts des Jürgen Bartsch
füllte.
Im Berliner
Tagesspiegel
war ich zufällig auf ihn und seinen Fall gestoßen; ganz offensichtlich war er damals drauf und dran, ein zweiter Jürgen Bartsch zu werden. Er hatte möglichst viele Presseberichte über Jürgen Bartsch und seine sadistischen Morde gesammelt und fast auswendig gelernt. Verhaftet wurde er, nachdem er mit einem kleinen Jungen in den Grunewald gegangen war mit der Absicht, ihn zu überwältigen und mit einem mitgebrachten Messer zu ermorden. Jörgs Fall interessierte mich ganz besonders: Er hatte seine Mitmenschen klar und deutlich gewarnt, wie gestört er psychisch war; nun mußten seine Mitmenschen – «die Gesellschaft» – darauf reagieren.
Es kostete Mühe, Zeit und Geduld, aber ich nahm direkten Kontakt auf mit – der Reihe nach – seinem Verteidiger, seinen Eltern, den Justizbehörden und schließlich mit dem jungen Mann selber, der damals in Untersuchungshaft in Moabit saß; später verbüßte er zwei Drittel seiner Strafe im Gefängnis Plötzensee. Auf Jörgs Wunsch, und im Einverständnis mit allen Beteiligten, auch mit den behandelnden Psychiatern, begann ein Briefwechsel zwischen Jörg und Jürgen unter meiner Aufsicht, nach dem gruppenpsychotherapeutischen Prinzip, daß kranke Menschen in einer kontrollierten Situation einander selber helfen können. Nach Jörgs Entlassung aus der «Plötze» verbrachte er eine längere Zeit in zwei Berliner Heilanstalten, aber therapeutischschien es aus verschiedenen Gründen nicht richtig zu klappen; die Prognose mußte ausgesprochen «infaust» erscheinen.
Als ich im Dezember 1989 Berlin besuchte, rief ich Jörgs Eltern zum erstenmal nach etlichen Jahren an. Er hatte jeden Kontakt zu ihnen abgebrochen – weil, so meinten sie, die junge Frau, mit der er zusammenlebte, darauf bestanden hatte. Als ich Jörg selber erreichte, reagierte er mit spontaner Freude und Begeisterung, aber sein Versprechen, mich in einigen Tagen anzurufen, um ein Treffen zu verabreden, hat er nicht eingehalten. Als ich mich dann wieder meldete, antwortete nicht er, sondern seine Freundin. Jörg lasse sagen, hörte ich, daß «das alles»
so
weit zurück in der Vergangenheit liege; es wäre doch wirklich besser, wenn ich ihn nicht wieder anrufen würde. In meiner Überraschung und Enttäuschung ließ ich die Frage ungestellt, ob das Jörgs eigener Wunsch sei. Im Mai 1990, wieder in Berlin, erreichte ich Jörg selber. Zögernd, sehr zögernd, bestätigte er, auch er halte das für besser.
Auf jeden Fall freue ich mich, daß ich dieses Buch über eine so tragische Geschichte mit wenigstens einem Fünkchen Hoffnung und Optimismus abschließen kann. Aus Jörg ist, trotz allem, kein zweiter Jürgen Bartsch geworden: Er hat heute eine verantwortungsvolle Stellung, die ihm als erwachsenem Mann eine selbständige Existenz ermöglicht, und er scheint in seiner Freundin einen annehmbaren Ersatz für das gefunden zu haben, was er in früheren Jahren bei präpubertären Jungen vergeblich suchte.
Im Gegensatz zu Jürgen hat Jörg Glück gehabt, sehr viel Glück. Von ganzem Herzen wünsche ich ihm und seiner Freundin für die Zukunft alles Gute.
P. M.
San Francisco,
im Juli 1990
Literaturverzeichnis
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Allgemeine Kriminologie
;
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