Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
zwanghaften Kindermörders Jürgen Bartsch, aber ich sah mich doch als einen Menschen, der unter noch ungünstigeren Umständen ein solcher Verbrecher hätte werden können. Goethe wird der Satz zugeschrieben: «Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können.»
Ich hatte während meiner zwei Jahre in Paris, den fünf Jahren in München und dann den zehn Jahren in Berlin immer wieder feststellen können, daß die alten, aber immer noch beliebten und häufig zitierten Mutmaßungen über Nationalcharakter, «Erbmasse» usw. in Fällen wie dem meinen – und in dem von Jürgen Bartsch – einfach nicht stimmten. Sigmund Freud zitierte gern den heiligen Augustinus:
«Inter urinas et faeces nascimur»
– und zwar wir alle, egal wer, egal wo. Aus meinen Jahren auf der Couch wußte ich, daß das untadelige Bild der Familie Bartsch, das meine Kollegen da in den Zeitungen, im Rundfunk, im Fernsehen malten, einfach nicht stimmen
konnte.
Und noch etwas: Während jeder Analyse lernt man eine Menge über das Wesen der Homosexualität – eine Grundkomponente in
jedem
Menschen. Also mußten mich die zahlreichen Andeutungen in den Presseberichten, daß nur ein Homosexueller die Taten von Jürgen Bartsch hatte begehen können, daß der Ursprung, die Ursache seiner Verbrechen in seiner Homosexualität zu suchen sei, sofort alarmieren, weil ich wußte, daß auch das nicht stimmte.
Für Hellhörige allerdings gab es von Anfang an schwache Zwischentöne, die die klischeehafte Harmonie der Berichterstattung störten. Zum Beispiel: die Adoptivmutter habe ihren Sohn bis zum Tage seiner Verhaftung selber gebadet – da war der vierfache sadistische Kindermörder Jürgen Bartsch neunzehn Jahre, fünf Monate und fünfzehn Tage alt. Dieses Detail ließ mich einen allerersten Einblick nehmen in den Abgrund des katastrophalen Familienlebens hinter der Fassade des hübschen kleinen Zweifamilienhauses im Finkenweg der Langenberger Siedlung mit dem harmonischen Namen «Glaube und Tat». In einer Familie, wo so etwas geschehen kann, wird ohne Zweifel mit der psychischen Hygiene eine ganze Menge nicht in Ordnung sein.
Ich wußte damals wenig über die Psychologie des Mordes – so gut wie gar nichts –, aber ich wußte doch genug von der menschlichen Natur, um zu wissen, daß Mörder keine glücklichen Menschen sein können. Aus der Psychoanalyse wußte ich auch, daß das Mörderische in jedem von uns Sterblichen nur schlummert und daß viele Mörder – vielleicht die meisten – ganz andere Menschen töten als diejenigen, die sie eigentlich tot sehen wollen. Ich fragte mich damals, was für eine Kindheit hatte Jürgen Bartsch zu solchen bestialischen Taten führen, ja sogar zwingen können. In meiner Unerfahrenheit hatte ich damals noch nie von einem Mörder gehört, dem das Töten sexuelle Befriedigung verschafft. Was hätte Jürgen Bartsch denn gegen die vier unglücklichen Kinder überhaupt haben können, die er in so unbeschreiblich grausamer Weise schlachtete? Und wenn er gegen seine Opfer nichts haben konnte, wen wollte er dann eigentlich tot sehen?
Einen Prozeß gegen Jürgen Bartsch, las ich damals, sollte es in etwa einem Jahr, wahrscheinlich in Wuppertal, geben. Meine Arbeit für Time-Life International beschränkte sich normalerweise auf Berlin und den Ostblock, auch hatte ich noch nie in meinem Leben Gelegenheit gehabt, über ein Strafverfahren zu berichten; aber ich dachte mir, den Termin für diesen Prozeß sollte ich im Auge behalten. Es erschienen noch einige Zeitungsberichteüber den «Kirmesmörder», dann las man monatelang nichts mehr über Jürgen Bartsch. Beruflich hatte ich in und um Berlin viel zu tun, und ich hatte Bartsch fast vergessen, als die Berichterstattung über die Eröffnung seines Prozesses am 30. November 1967 in Wuppertal plötzlich explodierte. Was ich da las, bestätigte und konturierte mein intuitives Bild von der psychologisch tiefkranken Familie Bartsch in Langenberg. Einen ganzen Mittwoch hatte der «dezent angezogene», «liebenswürdige», «nett aussehende», «sympathische» junge Mörder da im Wuppertaler Gerichtssaal mit dem Mikrophon in der Hand gestanden und angefangen, seine eigene Geschichte in allen Einzelheiten endlich bloßzulegen. Die sensationellen Berichte darüber waren lang, aber für mich war klar, daß sie trotzdem nur an der Oberfläche bleiben mußten. Dieser Prozeß erforderte ja wesentlich mehr als nur die übliche journalistische
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