VT05 - Tag der Vernichtung
Vorbei. Er hatte verloren. Van der Groot hob die Arme. Eine Stimme in ihm raunte: Endlich vorbei. Der die Waffe gezogen hatte, brüllte irgendetwas auf Deutsch – auf Schwyzerdütsch ; etwas, das Jan van der Groot nicht verstand. Er hörte auch nicht mehr richtig zu, irgendwie war jetzt sowieso alles gleichgültig. Mehr als drei Monate war er schon auf der Flucht – neunundneunzig Tage genau! – sehnte nicht sogar etwas in ihm das Ende herbei?
Seltsamerweise starrte oder schrie ihn keiner an. Keiner wollte etwas von ihm. Dafür umringten vier Uniformierte drei Schritte entfernt einen südländisch aussehenden Mann von vielleicht dreißig Jahren. Der schlug um sich, doch sie packten ihn, warfen ihn auf den Boden und knieten auf ihm. Der Mann schrie, als würden sie ihm sonst etwas abreißen.
Als sie ihn wieder hoch zerrten, trug er Handschellen. Die Sicherheitsmänner brachten ihn in einen Raum jenseits der Türen links des Kontrollpunktes. Der Kerl protestierte lautstark, und was er den Beamten an den Kopf warf, klang in van der Groots Ohren irgendwie türkisch.
Jan van der Groot ließ die Arme sinken, eine Frau grinste ihn an, schwarzhaarig, sommersprossig, elegant. Er lächelte verlegen zurück, ließ die Detektorkontrolle über sich ergehen, und ehe er wusste, was geschah, stand er am anderen Ende des Förderbandes. Er nahm Mantel, Laptop und Aktenkoffer an sich und machte sich auf den Weg zu seinem Terminal.
Nichts war geschehen, niemand hatte ihn erkannt.
Erleichtert und in Hochstimmung, als wäre diese Welt die beste aller möglichen, saß er im Warteraum neben der Frau mit den Sommersprossen. Sie grinste ihn an. »Ganz schöner Schreck, was?« Sie sprach Englisch.
»Ziemlicher Schreck, verdammt noch mal«, lächelte er. Sein Herz schlug viel zu schnell, und er merkte gar nicht, dass er niederländisch sprach.
»Harte Zeiten«, sagte sie, und nun auch in perfektem Niederländisch. »Da muss man so was schon mal in Kauf nehmen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Der Typ hatte eine Waffe oder so was dabei, haben Sie’s auch gesehen?«
»Plastiksprengstoff, schätze ich«, sagte van der Groot halb im Scherz. »Reichlich dumm. Vielleicht war es aber auch nur der Kautschukring seines künstlichen Darmausgangs.« Sie lachten. Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags.
Durch die Glasfront sah er einen voll beladenen Gepäckwagen über das Flugfeld rollen. Er wusste nicht, ob sein Gepäck darunter war. Fast ein Kilo ITH in Pulverform und in zwei Portionen hatte er in seinem Koffer verstaut. Das kleinere Päckchen – es wog etwa zweihundertfünfzig Gramm – enthielt die Bergmannvariante. Sämtliche Protokolle, Dokumente, Formeln und Studien für die Herstellung des Wirkstoffes trug er in einem Datenträger in seiner Laptoptasche bei sich.
Für den Fall, dass er ohne Gepäck fliehen musste, hatte er eine Probe des Wirkstoffes und ein Datenbackup zusätzlich am Körper versteckt. Pulver und Daten waren sein Startkapital in eine neue Zukunft.
Ihr Flug wurde aufgerufen. Es ging über Amsterdam, van der Groot traute seinen Ohren nicht. Amsterdam war die letzte aller Städte, in die er hinwollte!
Das hatte nichts mit seinem Verhältnis zu dieser Stadt zu tun, sondern mit den Leuten, die ihn jagten. Er war in Amsterdam geboren, hatte zuletzt in Amsterdam gelebt, und seine Jäger würden vor allem in Amsterdam nach ihm suchen.
Die Frau stand auf und lächelte immer noch, also stand er ebenfalls auf und lächelte mehr oder weniger tapfer. Er hatte so viel Stress hinter sich, hatte seine Jäger so oft abgehängt, da würde er diese Zwischenlandung in Amsterdam auch noch überstehen.
Seite an Seite und eingekesselt von Menschen rückten sie der Pass- und Bordkartenkontrolle näher. Würde überhaupt jemand erwarten, dass er freiwillig nach Amsterdam zurückkehrte? Nein! Was also hatte er zu befürchten? Van der Groot beruhigte sich wieder.
Er hatte ein Ticket nach Daressalam in der Tasche. Was er dort zu suchen hatte? Gar nichts. Eigentlich hatte er nach Rio de Janeiro fliegen wollen, wo ein ehemaliger und ungewöhnlich dankbarer Doktorand ihm ein Apartment gemietet hatte.
Odysseus nannte er sich manchmal bei sich selbst. Seit drei Monaten nämlich hetzte er von einem europäischen Land zum anderen; seit dem 4. September, seit Lupo Amok gelaufen und drei Polizisten und eine Dogge getötet hatte.
In Amsterdam war er der Polizei und dem Journalisten Tom Percival im letzten Moment entkommen, indem er sich nur eine
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