JULIA EXTRA BAND 0261
fünfmal geklingelt hatte, hörte sie eine Stimme: „Rachel?“
Ihre Schwester war also in New York.
„Hallo, Rebecca.“ Rachel schluckte. „Ich war mir nicht sicher,ob ich dich erreiche.“
„Ich war in Wyoming und bin nur kurz geschäftlich hier. Was gibt es?“
„Wie … wie geht’s dir?“
„Gut.“ Klang die Stimme ihrer Schwester auch ein wenig unsicher? Oder bildete sie sich das nur ein? „Und dir?“
„Auch.“ Rachel biss sich auf die Lippe. Das lief nicht besonders gut. Aber so war es immer. „Sind dir gestern zufällig ein paar Blumen auf Mutters Grab aufgefallen?“
„Wenn du den Rosenstock meinst – ja.“
„Oh, prima.“
Nach einer weiteren angespannten Pause fragte Rebecca: „War das alles, was du wissen wolltest?“
Unglücklich umklammerte Rachel den Hörer. Nein, das war nicht alles, aber sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte.
„Hör zu, ich bin ziemlich in Eile“, versuchte Rebecca das Gespräch zu beenden.
„Ja, ich auch.“
„Wo bist du überhaupt?“, fragte Rebecca in letzter Sekunde.
„In Frankreich.“
„Dann solltest du wohl au revoir sagen.“
Plötzlich liefen Rachel Tränen übers Gesicht. „Auf Wiedersehen, Rebecca.“
Nach der schrecklichen Begegnung vorhin auf der Landstraße hätte sie gern auf diesen Schmerz verzichtet.
Als sie sich ein wenig ruhiger fühlte und geduscht hatte, ging sie zur Rezeption.
„Können Sie mir bitte sagen, wo hier in der Gegend der beste Weinberg liegt?“, fragte sie den Empfangschef.
„Sehr gern, mademoiselle. Das ist die Domaine Chartier et Fils. Wenn Sie vom Stadtzentrum rechts abbiegen, kommen Sie nach fünf Kilometern zu einem Kloster aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das seit Jahren im Besitz der Familie Chartier ist. Sie können es gar nicht verpassen“, erwiderte der Mann, ohne zu zögern.
Rachel dankte ihm und ging zu ihrem Wagen, den sie in einer Seitenstraße geparkt hatte.
Jedes Jahr kamen Tausende von Touristen ins Elsass, der nordöstlichen französischen Provinz, die an Deutschland und die Schweiz grenzte. Jetzt im Juni war es besonders voll, und Rachel musste sich durch eine Traube von Menschen schlängeln.
Sie verstaute ihre schwarze Aktentasche auf dem Beifahrersitz und setzte sich ans Steuer. Leider nicht schnell genug, um zu verhindern, dass ein paar junge Männer einen Blick auf ihre langen eleganten Beine erhaschten. Zu allem Unglück war auch noch der Rock ihres weißen Kostüms nach oben gerutscht.
Rasch ließ sie den Motor an und fuhr los.
Kurz vor ihrer Ankunft beim Hotel hatte sie das Stadtzentrum durchquert. Denn die Weinstraße von Colmar – einer Stadt fünfundvierzig Minuten entfernt –, auf der sie hierhergekommen war, führte direkt ins Zentrum von Thann.
Da Rachel einen guten Orientierungssinn hatte, ließ sie die Stadt bald hinter sich und fuhr auf der Landstraße an märchenhaften Häusern mit Blumenkästen voller Geranien und anderer Sommerblumen vorbei.
Vor einer Woche in England hatte es noch ununterbrochen geregnet. Doch jetzt schien die Mittagssonne und beleuchtete das satte Grün der Landschaft.
Ohne diesen verrückten Autofahrer von vorhin wäre der Tag perfekt gewesen.
Noch immer verärgert über sein unverschämtes Verhalten, bog Rachel schließlich nach fünf Kilometern um eine Kurve und fand sich plötzlich zu beiden Seiten der Straße von hohen Weinstöcken umgeben. Durch den Weinberg fuhr sie einen Hügel hinauf.
In der Ferne sah sie das Kloster, das über den schachbrettartigen Parzellen des Weinbergs thronte, die auf Französisch terroirs heißen.
Beeindruckt fuhr sie langsamer, um sich die wunderschöne Landschaft genauer anzuschauen.
Die Mauern des Klosters waren leicht rosafarben, und eigentlich erwartete sie jeden Moment, Rapunzel in einem der gewölbten Fenster zu sehen. Rapunzel und den schönen Prinzen, der sie anflehte, ihr goldenes Haar herunterzulassen, damit er zu ihr hochklettern konnte.
Seit Rachel heute früh von Bordeaux ins Elsass geflogen war, spukten ihr ständig so fantastische Gedanken im Kopf herum.
Mit ihrem Vater und ihrem Großvater hatte sie auf den vielen Geschäftsreisen für ihr Restaurant schon viele schöne Plätze in Europa besichtigt. Aber dies war das erste Mal, dass sie sich unwiderstehlich zu einem bestimmten Ort hingezogen fühlte.
Hier könnte ich für immer leben, dachte sie, hielt den Wagenan und machte ein paar Fotos, bevor sie weiterfuhr.
Vielleicht sollte sie sich im Elsass nach einem kleinen Haus mit
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