der man die ganze Welt vergessen könnte. Im Moment kann davon bei mir keine Rede sein, aber ich bin noch nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben. Und bis es so weit ist, werde ich weiter das „freie Schreiben“ üben.
Trotz all der Dinge, die hier anders sind – oder vielleicht gerade deswegen – fühle ich mich ausgesprochen wohl in Molly Coopers kleinem Cottage. Es ist zwar schlicht, aber dafür hat es jede Menge Charme. Manchmal kommt es mir fast vor, als wäre sie gar nicht wirklich abgereist. Es klingt seltsam, aber es ist, als würde ich sie tatsächlich mehr und mehr kennenlernen. Nur indem ich mich hier aufhalte und all die tausend Dinge berühre und benutze, die sie ebenfalls berührt und benutzt hat (ihre Seife – Sandelholz, glaube ich –, ihr Geschirr und Besteck, ihr Bett mit dem weißen Moskitonetz etc. etc.).
An ihrer Kühlschranktür ist ein Foto von ihr angebracht (mit einem Magnet in Form einer Melonenscheibe). Sie steht neben einer älteren Frau, und auf der Rückseite stehen die Worte „Molly und Gran“ und das Datum. Das Bild ist etwas mehr als ein Jahr alt, und Mollys Großmutter wirkt darauf sehr zerbrechlich. Molly selbst dagegen sieht aus wie das blühende Leben. Außerdem hat sie eine wilde, hellbraune Lockenmähne, ein sehr hübsches Lächeln, Grübchen und sensationelle Beine.
Nicht dass Mollys Aussehen oder ihre Persönlichkeit in irgendeiner Weise relevant wären. Wir werden einander nie persönlich kennenlernen, und außer unseren Häusern gibt es keine Berührungspunkte.
Also etwas mehr über Pandanus Cottage.
Insgeheim hatte ich befürchtet, es könnte zu mädchenhaft und niedlich sein. Einer dieser kuscheligen, in Pastelltönen gehaltenen Orte, die den Testosteronspiegel eines Mannes abrupt in den Keller fallen lassen. Aber Pandanus Cottage hat nichts dergleichen an sich. Ich finde es ganz wundervoll, besonders die spektakuläre Wildheit seiner Umgebung gefällt mir.
Das Haus selbst ist sehr klein. Es gibt nur zwei Schlafzimmer, ein Bad und einen großen offenen Raum, der gleichzeitig als Küche, Ess- und Wohnzimmer dient. Alles befindet sich auf einer Ebene, und es ist seltsam, keine Treppe hinaufsteigen zu müssen, um ins Bett zu gehen.
Es gibt hier verblüffend viele Fenster. Und Kerzen in rauen Mengen. Sie sind überall verteilt, als gäbe es hier keinen Strom, zusammen mit Stücken von Treibholz, Muscheln und kleinen, überraschenden Gegenständen in Blau. Normalerweise achte ich nicht besonders auf Farben, aber (… ja, ich weiß selbst, wie dümmlich sich das anhört …) ich liebe all diese blauen Molly-Stückchen. Sie sind wie ein Echo des Ozeans und des Himmels, und ich muss jedes Mal lächeln, wenn ich eins von ihnen sehe.
Außerhalb des Hauses herrscht schwüle Hitze, aber drinnen ist es kühl, still und sehr friedvoll – genau die Atmosphäre, die ich nach dem geballten Stress der letzten Jahre brauche. Alle sind informiert, dass ich in den nächsten Monaten nicht zu erreichen bin, und das bedeutet: keine Anrufe, keine SMS, nur gelegentlich eine Mail von Molly oder meiner Mutter. Die reine Wohltat!
Ich glaube, ich werde heute Nachmittag die Hängematte im Mangobaum ausprobieren …
An: Patrick Knight
Von: Molly Cooper
Betrifft: aktueller Lagebericht
Hi Patrick,
wirkt der Zauber der Insel schon auf Sie, und kommen Sie gut mit Ihrem Buch voran? Ich habe bereits angefangen London zu erforschen (zu Fuß und in diesen herrlichen roten Doppeldeckerbussen. Das kostet zwar mehr Zeit, aber ich wage mich immer noch nicht in die U-Bahn). Außerdem habe ich einige Regeln für mich aufgestellt, um meine Zeit hier optimal zu nutzen.
1. Andere Australier meiden!
Schließlich will ich nicht die ganze Zeit von zu Hause reden.
2. Das „richtige“ London kennenlernen
Natürlich werde ich mir auch den Buckingham Palace und den Trafalgarsquare ansehen, aber ich brenne vor allem darauf, die verborgenen Schätze der Stadt zu entdecken.
Von einem Highlight kann ich Ihnen sogar schon berichten: Gestern bin ich bei einem Spaziergang auf das Haus gestoßen, in dem Oscar Wilde vor mehr als hundert Jahren gelebt hat. Ich habe an der Fassade hinaufgeschaut und an all die brillanten Theaterstücke gedacht, die er geschrieben hat. Ist es nicht unglaublich, dass man dieses Genie ins Gefängnis gesteckt hat, nur weil er schwul war?
Sie sind doch nicht schwul, oder? Nach den Büchern, die sie lesen