Julia Extra Band 357
haben.“
„Ich habe mehrere Kindheitsträume aufgegeben.“ Und im Tausch für sein jetziges Leben hatte er es bereitwillig getan. Das, was er aus sich gemacht hatte, war bestimmt nicht schlecht für jemanden, dessen Vater sich abgesetzt hatte, noch bevor der Sohn zwei Jahre alt gewesen war, und dessen Mutter mehr von Alkohol gehalten hatte als von Kindererziehung.
Trotzdem fühlte er, dass er langsam nachgab – wenn auch nur, um den einzigen Menschen auf der Welt, für den er bereit war, Kompromisse einzugehen, nicht zu enttäuschen. „Na schön, ich versuche es. Zwei Wochen lang.“
„Sechs Monate.“
„Einen.“
„Fünf.“
„Zwei. Mein letztes Angebot.“
„Es kann dir nicht entgangen sein, dass ich für ein ganzes Jahr bezahlt habe.“
„Sollte es mir Spaß machen, werde ich das Jahr vielleicht nutzen.“
Aber Neo hatte nicht die geringsten Zweifel, wie das Experiment ausgehen würde.
Schon zum zweiten Mal innerhalb einer Minute strich Cassandra Baker sich das dunkelblaue Designerkleid mit dem großen weißen Spitzenkragen glatt. Nur weil sie wie eine Einsiedlerin lebte, hieß das nicht, dass sie sich auch so kleiden musste. Selbst wenn andere sie nur selten sahen – und dann auch nur in ihrem Zuhause –, halfen hübsche Kleider ihr dabei, sich einigermaßen normal zu fühlen. Immer funktionierte es zwar nicht, aber zumindest versuchte sie es.
Eigentlich sollte sie jetzt spielen. Es entspannte sie. Das sagte man ihr zumindest immer wieder und manchmal glaubte sie selbst daran. Doch ihre schlanken Finger lagen reglos auf der Klaviatur. In weniger als fünf Minuten würde Neo Stamos zu seiner ersten Unterrichtsstunde erscheinen.
Wie jedes Jahr hatte sie der Spendengala zwölf Monate Meisterkurse bei ihr, der berühmten, wenn auch zurückgezogen lebenden Pianistin und Komponistin von New-Age-Musik, überlassen. Und sie war sich sicher gewesen, dass auch dieses Mal ein Musikliebhaber die Meisterkurse ersteigern würde. Vielleicht ein aufstrebendes neues Talent … Nie hätte sie vermutet, dass ein absoluter Neuling, noch dazu ein milliardenschwerer Großunternehmer, für ein Jahr ihr Schüler sein würde. Es war der Albtraum für eine Frau, die Schwierigkeiten hatte, einem Fremden ihre Tür zu öffnen.
Um sich über den Mann kundig zu machen, hatte sie sämtliche Artikel, die sie über ihn finden konnte, gelesen und im Internet recherchiert. Geholfen hatte es nicht, im Gegenteil. Auf den Pressefotos wirkte er eher wie jemand, der für Musik, gleich welcher Richtung, nichts übrig hatte. Warum in aller Welt wollte ein solcher Mann Klavierunterricht nehmen?
Nun, offenbar wollte er. Denn als die Summen bei der Auktion bereits in die Zehntausende gegangen waren, da war Zephyr Nikos vorgetreten und hatte einhunderttausend Dollar geboten. Einhunderttausend Dollar! Für wöchentlich eine Stunde ihrer Zeit! Verstehen konnte Cass es noch immer nicht. Selbst für ein Jahr war das ein mehr als extravagantes Gebot. Verständlicherweise war die Organisatorin der Gala vor Begeisterung übergeschäumt. Eigentlich hielt Cass Telefongespräche mit Leuten, die sie kaum kannte, kurz, doch die ältere Frau hatte ausführlich von der Auktion erzählt. Und es rührte sie ganz besonders, dass die Stunden ein Geschenk von Mr Nikos an seinen lebenslangen Freund und Geschäftspartner Neo Stamos waren.
Auch die Termine hatte nicht Mr Stamos’ persönlich ausgemacht, seine Assistentin hatte Cass angerufen. Da ihr eigenes Übungsprogramm flexibel war und sie praktisch nie ausging, stellte die Planung kein Problem dar. Dennoch ließ die sicherlich sehr kompetente, allerdings auch sehr reservierte Assistentin es klingen, als müsste Mr Stamos seinen Erstgeborenen opfern, um am Dienstag um zehn Uhr zur ersten Stunde zu erscheinen.
Was Cass nur noch nervöser machte, als sie ohnehin schon war, wenn sie einem Schüler zum ersten Mal begegnete. Sie konnte sich nicht vorstellen, wieso ein immens reicher, viel zu gut aussehender und noch dazu offensichtlich übermäßig beschäftigter Unternehmer Klavierunterricht nehmen wollte. Seit ihrem letzten öffentlichen Auftritt hatte Cass keine solche Unruhe mehr in sich verspürt. Auch wenn sie sich schon den ganzen Morgen sagte, dass das unsinnig war … es half nicht.
Als es an der Haustür klingelte, zuckte sie zusammen. Ihr Puls begann zu rasen, ihr Atem wurde unregelmäßig. Sie drehte sich auf dem Schemel zur Tür, aber sie stand nicht auf …
Sie musste aufstehen.
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