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Die strahlenden Hände

Die strahlenden Hände

Titel: Die strahlenden Hände Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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1
    Als der Zug in den kleinen Bahnhof einlief und mit einem hellen Knirschen hielt, erhob sie sich von dem grauen Polstersitz – sie fuhr 1. Klasse, weil ihr Mann Stefan das so verlangt hatte, wenn er sie schon nicht mit dem Wagen in die Stadt bringen konnte –, beugte sich etwas vor und betrachtete sich in dem rechteckigen Spiegel an der Abteilwand gegenüber.
    Nein, man sah nichts. Ihr Gesicht hatte sich nicht verändert. Auch die Augen waren die gleichen: tiefbraun, fast schwarz, groß und doch etwas geschlitzt – Stefan nannte sie Mandelaugen –, mit einem ungebrochenen Glanz, der Lebenskraft und Gesundheit ausstrahlte. Nur auf den hohen Backenknochen waren vor einer Stunde rote Flecken erschienen, die sie mit etwas braunrosa Puder überdeckt hatte – eine Vorsichtsmaßnahme nur, denn sie wußte, daß die Flecken nach dem Abklingen der ersten Erregung auch wieder verschwinden würden.
    Sie beugte den Kopf nach rechts und dann links zur Seite, zupfte ein paar schwarze Löckchen über die Stirn, strich mit angefeuchteten Fingerspitzen über ihre Augenbrauen und nickte ihrem Spiegelbild zu. Du siehst noch gut aus, dachte sie, als sei es fast unglaubhaft, daß eine Frau mit einundsechzig noch so jung aussah. Bei ihrem Vater war es genauso gewesen; er wirkte mit fünfzig Jahren wie ein flotter Dreißiger. Und was den Großvater betraf, der jagte noch mit über achtzig auf einem feurigen Hengst die Wölfe in der Wildnis um den Tschalkinskoje-See. »Wenn der Mensch wirklich mal zweihundert Jahre alt werden sollte, dann beginnt das hier in Grusinien!« hatte er ein paarmal gesagt. Und Großvater hatte auch verkündet: »Krankheiten sind dazu da, daß man sie mißachtet. Nur wer immer davon redet, wird krank!« Um so mehr traf es ihn, daß sein Sohn David Semjonowitsch Medizin in Tiflis studierte und sich als Arzt in Poti, an der Küste des Schwarzen Meeres, niederließ. Großvater starb auch wirklich nicht an einer Krankheit; er wurde 1944 von den Deutschen erschossen, als man ihn dabei überraschte, wie er eine Sprengladung an die Eisenbahnstrecke Tiflis-Batum legte.
    Man muß eine Krankheit mißachten wie der Großvater, dachte die Frau, lächelte noch einmal in den schmalen Spiegel, wandte sich dann ab und verließ das Abteil. Sie hatte kein Gepäck bei sich, nur ihre übliche Handtasche und eine Einkaufstüte der Großbäckerei Schmoldes aus Münster. Bei Schmoldes gab es das beste Sauerteigbrot und den besten Stuten, ein im Kasten gebackenes Weißbrot. Und wenn jemand von der Familie Doerinck nach Münster fuhr, war es selbstverständlich, daß er von Schmoldes Brot und Stuten mitbrachte.
    Als sie die Tür des Waggons öffnete, stand Corinna auf dem Bahnsteig und winkte ihr zu. Sie winkte mit der linken Hand, die ihre Handtasche hielt, zurück und hob die rechte mit der Schmoldes-Tüte hoch.
    »Endlich bist du da, Matjuschka!« rief Corinna und nahm der Mutter die Bäckertüte ab. Dann wollte sie sie stützen, als sie die zwei hohen Trittstufen hinunterstieg, aber die Mutter wehrte ab und sprang auf den Bahnsteig, als sei sie ein junges Mädchen.
    »Was heißt endlich? Ihr wußtet doch, daß ich mit diesem Zug zurückkomme. Ist Papuschka noch immer in seiner Konferenz?«
    »Noch immer, Mama. Wie geht es dir?«
    Corinna sah ihre Mutter forschend an. Ein paar Leute, die an ihnen vorbeigingen, grüßten sie mit großer Höflichkeit. Wer in dem Städtchen Hellenbrand kannte die Doerincks nicht. Den Lehrer und Konrektor Stefan Doerinck, zweimaliger Schützenkönig, Dirigent des Kirchenchores, Vizepräsident des Kegelclubs ›Rums‹ und gefürchteter Skatspieler am Stammtisch der Wirtschaft ›Westfalenwappen‹. Und seine Frau mit dem Namen Ljudmila, die eine Russin war, was man in Hellenbrand auch nach sechsundzwanzig Jahren noch nicht ganz verstehen konnte. Tochter Corinna sah zwar fast genauso ›fremdländisch‹ aus wie die Mutter, immerhin war sie aber in Deutschland geboren und betrieb am Rande von Hellenbrand eine vielbeachtete künstlerische Teppichknüpferei.
    »Wie es mir geht? Wie soll's mir gehen? Gut!« Ljudmila verließ mit weiten Schritten den Bahnsteig und ging hinüber zu Corinnas kleinem Wagen. Wie bei den meisten kleinen münsterländischen Städten lag auch der Bahnhof von Hellenbrand außerhalb der Stadt, fast einsam zwischen Feldern und Waldgruppen, mit den Häusern Hellenbrands durch eine breite Straße verbunden, eine Allee aus schlanken, hohen Birken. Deshalb gab es in Hellenbrand auch

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