Julia Extra Band 357
Musste zur Tür gehen und ihren neuen Schüler begrüßen.
Es klingelte ein zweites Mal. Die Ungeduld in dem Laut brach ihre Starre. Sie sprang auf.
Auf dem Weg zur Tür schossen ihr all die beunruhigenden Fragen durch den Kopf, die sie schon den ganzen Morgen plagten. Würde Neo Stamos vor ihrer Tür stehen oder seine Assistentin? Vielleicht ein Leibwächter oder der Chauffeur? Redeten Milliardäre mit ihrem Klavierlehrer, oder ließen sie die Konversation von irgendwelchen Untergebenen bestreiten? Würde sein Chauffeur oder sein Leibwächter während der Unterrichtsstunde mit im Raum sein wollen? Oder vielleicht auch seine Assistentin …?
Bei der Vorstellung, so viele fremde Leute in ihrem bescheidenen Haus zu haben, begann Cass zu hyperventilieren. Sie war stolz auf sich, dass sie dennoch weiter auf die Tür zuging. Vielleicht war er ja allein gekommen. Eine Überlegung, die einen ganzen Berg von neuen Fragen vor ihr auftürmte. Ob es ihm recht war, sein Luxusauto in der einfachen Nachbarschaft im Westen Seattles zu parken? Sollte sie ihm anbieten, seinen Wagen in die leere Garage zu stellen?
Ein drittes Klingeln ertönte, gerade als sie die Tür aufzog. Mr Stamos, der in natura noch imposanter aussah als auf den Fotos, schämte sich seiner Ungeduld eindeutig nicht.
„Miss Cassandra Baker?“
Augen, grün wie die Blätter der Bäume im Frühsommer, waren fragend auf sie gerichtet. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um dem dunkelhaarigen Tycoon in das überwältigend attraktive Gesicht sehen zu können.
„Ja.“ Sie zwang sich, ihm das gleiche Angebot zu machen wie jedem ihrer Schüler. „Sie können mich Cass nennen.“
„Sie sehen aus wie eine Cassandra, nicht wie eine Cass.“ Seine tiefe Stimme klang in ihren Ohren wie eine perfekt gestimmte Saite.
„Meine Schüler nennen mich alle Cass.“ Auch wenn es ihr unpassend vorkam, diesen Mann als Schüler zu bezeichnen.
Offensichtlich ging es ihm genauso, denn es zuckte um seine Mundwinkel. „Ich nenne Sie Cassandra.“
Sie starrte ihn an, wusste nicht, wie sie seine Arroganz auffassen sollte. Er schien sich nichts dabei zu denken, sondern es für selbstverständlich zu halten, dass er sie nennen konnte, wie er es für angebracht hielt.
„Ich glaube, wir können erst mit dem Unterricht anfangen, wenn Sie mich einlassen.“
Nur ein Hauch von Ungeduld war in seiner Stimme zu hören, dennoch fühlte Cass sich ungeschickt und unhöflich. „Natürlich … Möchten Sie Ihren Wagen vielleicht in der Garage parken?“
Er blickte nicht zu dem schnittigen Mercedes zurück, der in ihrer Auffahrt stand, schüttelte nur knapp den Kopf. „Das wird nicht nötig sein.“
„Fein. Dann kommen Sie herein.“ Sie drehte sich um und ging voraus zum Klavierzimmer.
Der große Raum war einst der Salon des im späten neunzehnten Jahrhundert gebauten Hauses gewesen, jetzt bot er ihrem Fazioli-Flügel die perfekte Umgebung. Ein einzelner großer Queen-Anne-Sessel stand an der Wand, daneben ein rundes Seitentischchen, ansonsten nahm kein weiteres Mobiliar dem Zimmer die luftige Atmosphäre.
Cass deutete auf die Klavierbank, die vor dem Flügel stand. „Nehmen Sie Platz.“
Er folgte ihrer Aufforderung. Der Anblick überraschte sie: Er wirkte wesentlich entspannter vor dem Flügel, als sie sich in seinem Büro gefühlt hätte. Er musste größer sein als ein Meter neunzig, und doch bot er kein ungelenkes Bild auf der Bank. Er hatte große Hände mit langen Fingern … und Schwielen, die weder zu einem Pianisten noch zu einem Milliardär passten. In dem perfekt sitzenden Armani-Anzug, der die breiten Schultern betonte und muskulöse Schenkel erahnen ließ, gehörte er eigentlich in ein Vorstandszimmer, dennoch wirkte er hier nicht fehl am Platz.
Vielleicht fehlte dem dunkelhaarigen Adonis ja das Gen, das für Verlegenheit zuständig war.
„Kann ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken anbieten?“
„Wir haben bereits mehrere Minuten der Unterrichtsstunde vertan. Es wäre zweckmäßiger, wenn wir die Nettigkeiten übergehen könnten.“
„Ich werde die Minuten auch gern an die Stunde anhängen.“ Sie fühlte sich schuldig, obwohl sie sich ziemlich sicher war, keinen Grund dafür zu haben.
„Ich nicht.“
„Ich verstehe.“ Seltsam, aber seine kurz angebundene Art beruhigte ihre Nerven. Oder war es nur die Erleichterung, dass er nicht mit seinem ganzen Gefolge erschienen war? Wie auch immer … sie empfand seine Anwesenheit deutlich weniger aufreibend
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