Julia Extra Band 357
sorgen.“
„Hartes Urteil oder Realität?“
„Touché.“
„Oft habe ich mir gewünscht, ich hätte diesen Karton nie gefunden. Dann hätte ich mich mit der verschwommenen Erinnerung zufriedengeben können.“ Sie kaute an ihrer Lippe und wandte das Gesicht ab, als die altbekannte Traurigkeit wieder auf sie einstürzte. „Die Sachen meiner Eltern auszuräumen hätte eine reinigende Wirkung haben sollen.“
„Wer sagt das?“
„Mein Manager.“ Sie lachte humorlos. „Er hat mich gezwungen, den Verlust zu akzeptieren, insofern war es wohl gut.“ Sie blickte in seine Augen zurück. „Aber es hat schrecklich wehgetan.“
„Das tut mir leid für dich.“
„Danke.“
„Und wenn jetzt deine Schlösser geändert werden, wird das den Verlust nicht aufwiegen, aber es bringt dir die traumatischen Emotionen zurück. Sehe ich das richtig?“
Sie nickte, zwang sich, munterer zu sein. „Für einen Geschäftsmann bist du erstaunlich feinfühlig.“
„Herauszufinden, wie die Menschen ticken, ist der halbe Erfolg im Geschäft.“
„Ich wette, du bist gut darin.“
„Unschlagbar.“
Als sie dieses Mal lachte, klang es schon wesentlich heiterer. „Sehr von dir selbst überzeugt, was?“
Er lächelte. Es gefiel ihm, dass er sie zum Lachen bringen konnte. „Ich kenne meine Stärken, das ist alles. Allerdings wird man es mir wohl kaum als Stärke anrechnen, wenn ich mich zu spät in die Telefonkonferenz einschalte.“
„Kannst du das nicht von deinem Autotelefon machen?“
„Schon, doch solange ich meinen Computer mit allen wichtigen Informationen nicht vor mir habe, bin ich nicht sicher, ob ich überhaupt etwas Nützliches einbringen kann.“
„Ich wette, du kannst sämtliche Informationen aus dem Kopf abrufen.“ Trotzdem stand sie auf und stellte das Geschirr ins Spülbecken.
„Das Wetten habe ich aufgegeben, als mir eine verlorene Wette Klavierstunden eingebracht hat.“
„Sollte ich mich jetzt beleidigt fühlen?“, fragte sie.
„Nein. Ich bereue nicht, dass ich das Geschenk annehmen musste. So habe ich einen neuen Freund gefunden.“
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. „Was für ein Geburtstagsgeschenk.“
„Zephyr wollte mir für meinen Fünfunddreißigsten etwas wirklich Besonderes schenken. Früher, als wir noch jünger waren, wollte ich immer Klavier spielen lernen. Allerdings hatte ich seit Jahren nicht an diesen Kindheitstraum gedacht.“
„Jetzt ist es kein Traum mehr.“
„Richtig. Es ist sogar noch mehr. Ich wusste gar nicht, dass ich ein großer Fan von dir bin.“
„Du wusstest es nicht? Das musst du mir erklären … unterwegs. Ich möchte schließlich nicht, dass du zu spät kommst.“
Eine knappe Stunde später – noch immer völlig überrumpelt von der Neuigkeit, dass Neo schon seit Langem ihre Musik hörte und sie nun als Freund bezeichnete – lauschte Cass über Kopfhörer ihrem neuen Stück auf dem MP3-Spieler und machte sich Notizen und Anmerkungen für mögliche Änderungen. Es war nicht übertrieben gewesen, als sie Neo gegenüber behauptet hatte, dass sie arbeiten musste, nur brauchte sie es nicht unbedingt von zu Hause aus zu tun.
Sie liebte die technischen Neuerungen, die es ihr erlaubten, nicht den ganzen Tag am Flügel zu sitzen, sie arbeitete inzwischen häufig mit dem kleinen Gerät, das ihr Flexibilität bot. Sie konnte ihre Kompositionen während des Trainings oder des Kochens abhören … oder eben in dem leeren Konferenzsaal von Stamos & Nikos Enterprises.
Als jemand ihr auf die Schulter tippte, wurde ihr jedoch schlagartig bewusst, dass sie nicht allein war.
Cass zog sich den winzigen Lautsprecher aus dem Ohr und drehte sich um. „Ja?“
„Mr Stamos lässt fragen, ob Sie vielleicht etwas zu trinken wünschen.“
Miss Parks, Neos Assistentin, war hinter ihr aufgetaucht, und ihre Erscheinung passte genau zu ihrer Telefonstimme. Die blonde Mittvierzigerin trug Chanel, dazu passend einen eleganten Chignon – die Verkörperung der kühlen Karrierefrau.
Und Miss Parks hielt es ganz offensichtlich für unter ihrer Würde, der Klavierlehrerin ihres Chefs eine Erfrischung anzubieten.
Aber was die gegenseitige Abneigung anging, stand Cass ihr in nichts nach. Außerdem saß Cass im Konferenzsaal eines Wolkenkratzers voller Fremder, während andere Fremde ihr Haus zerstörten – daher sah sie keinen Anlass, ihre schlechte Laune zu kaschieren. „Ein Wasser wäre nett“, erwiderte sie knapp. Nach Tee fragte sie erst gar nicht, auch wenn
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