Dhampir: Vergessene Zeit (German Edition)
Prolog
Die Sonne war schon untergegangen, als Elias den Saum seines grauen Weisengewands hob und die nächste Straßenecke hinter sich brachte. Jeremy folgte ihm dichtauf, stolperte aber erneut über den für ihn zu langen Umhang. Elias sah zu ihm zurück.
»Kannst du nicht langsamer gehen?«, brummte Jeremy.
»Wir müssen dies hinter uns bringen!«, erwiderte Elias scharf. »Ich möchte Elvina in der Taverne ›Zum Klingenden Humpen‹ nicht verpassen. Und dir sollte ebenfalls daran gelegen sein, sie dort zu treffen. Wenn sie, wie versprochen, eine Freundin mitgebracht hat.«
Jeremy brummte erneut, ging aber schneller.
Elias eilte durchs schwache Laternenlicht, das hier und dort aufs nasse Kopfsteinpflaster von Calm Seatt fiel, der Königsstadt in Malourné. Was die Zukunft der Weisengilde betraf, lag so vieles im Ungewissen.
Jeremy und er hatten erst vor kurzer Zeit, nach langen Lehrjahren, den Reisenden-Status erlangt. Jetzt brauchten sie nur noch einen Auftrag, der sie in die Provinz führte, oder vielleicht nach Faunier oder Witeny, beides in der Nachbarschaft gelegen. Anschließend würden fünf Jahre des Dienstes im Ausland folgen, und dann kam möglicherweise der Tag, an dem ihr Geschick Anerkennung fand. Wenn das geschah, konnten sie die Prüfung für den Meister-Status beantragen. Vielleicht bekam eines Tages einer von ihnen sogar den Posten eines Domin und wurde damit zum Leiter einer Zweigstelle der Gilde.
Doch Elias machte sich Sorgen.
An diesem Abend musste er Elvina sagen, dass er eine Zeit lang fort sein würde. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die gern warteten. Und warum hatten Jeremy und er noch keinen Auftrag erhalten, abgesehen von Botengängen? Wie beleidigend für zwei Weise mit Reisenden-Status. Was steckte dahinter?
Und das alles wegen der dummen Wynn Hygeorht und ihren halb vergammelten Büchern aus dem Ausland!
»Ist sie auch klug … « Jeremy schnaufte. »… und nicht nur schön?«
»Was … wer? Oh, natürlich ist sie schön. Sie ist wundervoll! Du hast Elvina doch gesehen.«
Nur noch ein Häuserblock trennte sie von ihrem Ziel, als Elias die Stufen eines Ladens hinauflief. Das handbemalte Schild über der Tür bemerkte er kaum: Der aufrechte Federkiel . Ein wenig Licht drang durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden.
Eine Faust traf Elias am Rücken.
»Ich meine nicht Elvina, du hirnloser Idiot!«, zischte Jeremy. »Die andere … ihre Freundin.«
Jeremy schlug erneut nach ihm, aber nur der Aufschlag des zu langen Ärmels traf den Rücken. Elias stieß den Arm seines Begleiters zur Seite.
»Keine Ahnung«, flüsterte er.
Sein Freund krümmte sich halb zusammen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Schließlich richtete sich Jeremy auf, und sein Gesicht zeigte Überraschung.
»Du hast sie nie gesehen? Kennst du überhaupt ihren Namen?«
»Natürlich«, erwiderte Elias.
Seine Besorgnis wuchs. Auf keinen Fall wollte er von Meister Teagan – oder schlimmer noch, von Meister a’Seatt – bei einem Streit vor dem Schreibkontor erwischt werden.
»Er lautet … er lautet … «, begann er.
Doch der Name von Elvinas Freundin fiel ihm nicht ein. Hatte sie ihn überhaupt genannt? Wie auch immer, er wollte sich seine Pläne für den Abend nicht von Jeremy ruinieren lassen. Nicht nach all der Mühe, die es ihn gekostet hatte, Elvinas Vater ein Schnippchen zu schlagen.
»Mistkerl!« Jeremy holte zu einem neuen Schlag aus.
Hinter Elias knarrten alte Türangeln.
Warmes Licht fiel auf ihn und zeigte Jeremys plötzlich beschämtes Gesicht. Elias wirbelte herum und sah sich dem alten Meister Teagan gegenüber.
»Was soll dieser Unsinn?«, krächzte Teagan. »Und wo ist der schüchterne Bursche, der dich ständig begleitet?«
»Ich … äh … «, begann Jeremy.
»Wir haben nichts angestellt«, sagte Elias. »Wir sind nur wegen der letzten Abschrift hier, wie es unsere Anweisungen verlangen. Und Nikolas wurde uns nicht zugeteilt.«
Zum Glück, fand Elias.
Er mochte den schüchternen Nikolas, aber sein Kollege hatte nur den Status eines Lehrlings erreicht, und dafür war er eigentlich schon zu alt. Außerdem hielt Elvina nichts vom Nervösen Nikolas.
Der dürre, verschrumpelte und fast kahlköpfige Teagan starrte Elias durch dicke, runde Brillengläser an. Mit den großen Augen über der langen Nase sah er aus wie ein in die Jahre gekommener Jagdhund, der versuchte, einen Fuchs in einem Hühnerstall zu erschnüffeln.
»Kommt rein, bevor es kalt wird«, forderte
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