Ein Abend im Club
1.
Das Klavier war für Simon Nardis nicht eine Liebhaberei, nicht sein violon d’Ingres {} . Es war für ihn viel mehr als die Geige für Ingres. Das Klavier war für ihn das, was die Malerei für Ingres war. Wenn Ingres das Malen aufgegeben hätte, wäre das schade gewesen. Dass Simon Nardis das Klavierspielen aufgab, war schade.
Nach diesem Verrat ging er wieder seinem vorherigen Beruf nach. Man müsse sich ernähren, hieß es. Wohnen, sich rein halten. Im Sinne von chemisch rein. Vor allem aber ging es um das Auf-sich-Halten. Dem der Jazz weniger förderlich ist. Und Simon Nardis war Jazzpianist. Vergessen, der Welt aus dem Blick und abhanden geraten, begegnet er uns hier und heute, am Abend vor einem langen Wochenende.
Die Fabrik, um die er sich kümmern sollte, lag am Meer. Noch nie hatte seine Arbeit ihn an einen Ferienort geführt. Zum ersten Mal hatte es ihn in einen Ort verschlagen, der Industriestadt und Seebad in einem war. Dass er am Meer lag, ist nicht unerheblich. Das Meer spielt in dieser Geschichte durchaus eine Rolle.
Simon Nardis’ Arbeit. Ich werde ihn nur noch Simon nennen. Das ist einfacher. Er war mein Freund. Simons Arbeit bestand nicht darin, die Stimmung in einem Club anzuheizen und die Herzen seiner Zuhörer zu erwärmen, sondern Fabrik- und Lagerhallen, Werkstätten und Labors. Arbeiter, kostbares Material und sogar Tiere auf einer Temperatur zu halten, die reibungslosen Betrieb, Werterhalt und lange Lebensdauer gewährleistete.
Erlernt hatte Simon diesen Beruf, als er noch ein ganz junger Amateurpianist war und auf kleinen Volksfesten auftrat. Er gab ihn auf, als er Profi wurde. Und kehrte zu ihm zurück, als er aus gesundheitlichen Gründen zu spielen aufhörte. Nennen wir es ruhig gesundheitliche Gründe. Ganz so einfach war es natürlich nicht.
Eine industrielle Heizungsanlage in Gang zu setzen und vor allem einzustellen, ist ebenfalls nicht so einfach. Wer interessiert sich schon für Technik? Und doch muss man über sie reden. Ihretwegen nämlich hat Simon seinen ersten Zug verpasst.
Probleme waren aufgetreten. Sie mussten gelöst werden, an Ort und Stelle und sehr rasch. Ein langes Wochenende stand bevor. Man konnte nicht vier Tage damit warten. Hochverderbliche, auf Temperaturschwankungen empfindlich reagierende Güter waren in Gefahr. Sie waren ein Vermögen wert.
Der Ingenieur der Firma kam nicht zurande. Er konnte die Pannenursache nicht finden. Und bat Simon um Hilfe. Simon fand das natürlich großartig, sich nützlich machen, den Kunden zu Hilfe eilen, das machte ihm den Job erträglich. Gewiss, aber. Es war Donnerstag Abend. Simon sollte mit Suzanne, seiner Frau, für einige Tage zu Suzannes Mutter, seiner Schwiegermutter, fahren, das Übliche eben.
Ich komme morgen mit dem Zug um 10.40 Uhr, sagte er dem Ingenieur. Holen Sie mich ab und machen Sie sich vor allem keine Sorgen, wir kriegen das schon hin. Meinen Sie?, fragte der andere, sein Job stand auf dem Spiel. Aber natürlich, es ist sicher nur eine Kleinigkeit, wir müssen sie lediglich finden, bis morgen also, und versuchen Sie sich ein wenig auszuruhen, sagte Simon, dabei wusste er, dass der Ingenieur, ein netter Kerl, die ganze Nacht weitersuchen würde.
Am Nachmittag des nächsten Tages, gegen 16 Uhr, also etwa eine Stunde vor der Abfahrt von Simons Zug zurück nach Paris, war der Fehler immer noch nicht behoben. Sie hatten die Ursache zwar lokalisieren können, doch die Anlage streikte nach wie vor. Irgendein Thermostat, der nicht oder schlecht oder nur nach eigenem Belieben reagierte und daher falsche Signale aussendete. Sie mussten herausfinden, warum.
Ich werde meinen Zug verpassen, dachte Simon und sah dabei den Ingenieur an, der seinerseits Simon ansah und dachte: Er wird mich hängen lassen, er muss zu seinem Zug. Wann geht der nächste Zug?, fragte Simon. Ich weiß nicht, sagte der Ingenieur, heute Abend ziemlich spät, glaube ich. In Ordnung, sagte Simon, ich nehm den Abendzug, wir müssen das hinbekommen.
Der Ingenieur jubilierte: Wunderbar, sagte er und schlug Simon dankbar auf die Schulter. Freude schafft menschliche Nähe. Er entschuldigte sich. Diese Erleichterung. Er wisse gar nicht, wie er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen solle. Simon riet ihm, keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden. Ich muss meiner Frau Bescheid sagen, sagte er, kann ich mal telefonieren?
Die beiden verließen die von Auskühlung bedrohten Hallen und gingen zum Büro des Ingenieurs. Der Schreibtisch war
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