JULIA FESTIVAL EXTRA Band 03
wieder profitabel machen könnte, schließlich war ich erst zweiundzwanzig, aber ich redete und redete, bis er fast den Verstand verlor und Ja sagte, damit ich Ruhe gab.“
„Die Geschichte nehme ich Ihnen nicht ab“, lachte sie. Trotzdem glaubte sie ihm.
Und weil er einfühlsame Fragen stellte, sprach sie mit ihm über Dinge, die sie nie zuvor einem Menschen erzählt hatte. Über den schrecklichen Schmerz, als ihr Vater seine Frau und die fünfjährige Tochter einfach allein gelassen hatte. Ihre Mutter war in ein tiefes dunkles Loch gefallen, aus dem sie sich nie mehr vollkommen hatte befreien können. Sie bemühte sich zwar, ihre kleine Tochter zu versorgen, vernachlässigte aber bald sich selbst.
Sonia war sich nicht einmal sicher, ob ihr Vater tot war. Sie wusste nur, dass es seit zwanzig Jahren von ihm kein Lebenszeichen mehr gab. Ihre Mutter war gestorben, als sie zwölf gewesen war, und danach hatte sich die Jugendbehörde ihrer angenommen.
„Mir tun alle leid, bei denen ich Pflegekind war“, erzählte sie Francesco reumütig. „Ich war es gewohnt, schon damals alles selbst in die Hand zu nehmen, was die Angelegenheiten meiner Mutter und mich betraf, und ließ mir nichts sagen. Ich hatte drei Pflegeeltern. Sie waren alle froh, als sie mich wieder loswurden.“
„Das kann ich nicht glauben.“
Es stimmte, aber sie unternahm keinen Versuch, das Chaos in ihrem Leben zu beschreiben. Als Kind hatte sie einen heftigen Sinn für Unabhängigkeit entwickelt, den sie nie wieder aufgeben konnte. Mit sechzehn musste sie es dann allein mit der Welt aufnehmen, als Basis hatte sie nur ihre exzellente Schulbildung. Es schien auszureichen. Schön und talentiert, fand sie leicht Bewunderung, und dass ihre Beziehungen so schnell wechselten, führte sie auf ihre Arbeit zurück. Sie hatte noch nicht verstanden, dass es vielleicht einen anderen Grund haben könnte. Und in dieser einzigartigen, verzauberten Nacht, als ihr Herz sich so weit öffnete wie noch nie, fiel es ihr leicht zu vergessen, dass sie es normalerweise sorgfältig verschlossen hielt.
Sie redete und redete und erfuhr ein berauschendes, neues Gefühl der Freiheit. Und plötzlich blickte sie auf und sah, dass er sie betrachtete. Ihre Kehle war auf einmal wie zugeschnürt. Ihre Blicke verfingen sich, und die Welt schien stillzustehen.
Vergeblich versuchte sie ihren Verstand zu mobilisieren, wehrte sich noch gegen die Erkenntnis, die sich in ihr formte. Umsonst. Sie hatte bereits ihr Herz verloren.
Es war dunkel, als sie das Restaurant verließen, und Francesco tat etwas, was kein anderer Mann getan hätte. Führte sie, wie selbstverständlich, zu einer winzigen Kirche in einer Nebengasse.
„Ich möchte Sie jemandem vorstellen“, sagte er schlicht, und Sonia schaute sich nach einem Priester um. Stattdessen ging er mit ihr zu einer kleinen Nische, in der auf einem Altar eine Kerze vor der Gestalt einer Mutter mit Kind brannte.
„Als Kind kam ich hierher, weil ich diese Madonna liebte“, vertraute er ihr an. „Sie ist anders.“
Sonia begriff sofort, was er meinte. Der Madonna fehlte der Ausdruck schwermütiger Unnahbarkeit, den Sonia oft in den Gesichtern anderer Muttergottesbilder gesehen hatte. Sie war rundlich und fröhlich, und ihr lachendes Kind streckte die Arme der Welt entgegen.
„Für mich war sie wie eine ganz besondere Freundin, und ich konnte mit ihr reden“, sagte Francesco. „Sie hörte sich meine Sorgen an, und niemals schimpfte sie mit mir, selbst wenn ich etwas Unrechtes getan hatte.“
„Geschah das oft?“
„Oh ja. Meinetwegen musste sie Überstunden machen.“
Er nahm eine Kerze, stellte sie zu der anderen und zündete sie an. Dann lächelte er die beiden an und zwinkerte ihnen zu, ehe er sich abwandte.
„Sie zwinkern der Madonna zu?“, fragte Sonia, als sie die Kirche verließen.
„Es macht ihr nichts aus. Weil ich es bin.“ Unerwartet nahm er ihre Hand. „Ich habe es noch keinem anderen erzählt. Finden Sie mich verrückt?“
„Nein“, sagte sie sanft. „Ich finde es sehr schön.“
Wohin waren sie anschließend gegangen? Sie wusste es nicht mehr, hatte wieder nur einen Eindruck gespeichert. Das eigentliche Leben Venedigs spielte sich abseits der Touristenzentren, in den schmalen Hintergassen, ab. Sie erinnerte sich an ihre Schritte auf den Steinplatten, die dunklen calles, spärlich erleuchtet von Straßenlaternen, die weit genug auseinander standen, um Liebenden intimen Schatten zu bieten.
Noch nie
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