Die verschollene Karawane
1.
F assungslos starrte Pater Giovanni auf die blutüberströmte Leiche. Er hätte schreien mögen, aber schrille Laute waren in diesen heiligen Gemäuern nicht erwünscht. In einem Franziskanerkloster definiert sich Gottesfurcht über lautlose Demut.
Panisch presste er sich die Hand auf den Mund. Er zitterte am ganzen Leib. Zu grauenhaft war das, was er sah. Tote hatte er schon oft gesehen: runzlige Mütterchen mit Bartstoppeln im Gesicht ebenso wie Frauen in der Blüte ihres Lebens. Und einmal sogar einen Fötus, der den Schoß der Mutter leblos verlassen hatte. Der Tod war nun mal fester Bestandteil Seiner Schöpfung. Asche zu Asche, Staub zu Staub, so gab Er es vor. Doch dieser Leichnam war grässlicher als alles, was er je zuvor gesehen hatte. Zumal er den Toten gut kannte. Er fühlte sich angewidert vom Anblick des alten Mannes zu seinen Füßen. In Bruchteilen von Sekunden rebellierte sein Körper gegen den Ekel erregenden Geruch von Erbrochenem auf dem Hemd des Ermordeten, der auf dem Boden der Wandnische zusammengesackt war, den Rücken gegen die Statue des heiligen Franziskus gelehnt. Das Gesicht war voller Blut, die Nase deformiert. Und immer noch rann dem Toten Blut über den Kinnbart auf sein weißes Hemd. Am Hals waren blaurote Hämatome zu sehen. Jemand hatte ein fingerdickes Seil mehrfach um seinen Hals gezurrt und es an der Statue hinter ihm festgebunden. Die Zunge des alten Mannes hing schlaff seitlich aus dem Mund heraus. In seinem weit aufgerissenen, fast zahnlosen Mund steckte etwas, das ihm bis tief in die Speiseröhre reichte. Es sah wie zusammengeknülltes Papier aus. Kein Zweifel: Dieser Mann war misshandelt und schließlich zu Tode stranguliert worden. Die hervorgetretenen Augen des Toten ließen erahnen, dass er Höllenqualen gelitten hatte. Dio mio! Wer war zu solch einer bestialischen, geradezu teuflischen Tat fähig? In einem Kloster! Und ausgerechnet vor der Statue des heiligen Franziskus, dessen Sanftmut und Respekt vor allen Geschöpfen des Herrn legendär war.
Der junge Mönch bekreuzigte sich hastig, stammelte nochmals mehrere »Dio mio« vor sich hin, atmete tief durch, raffte seine Kutte zusammen und kniete nieder. Aus einem Winkel des Klosters nahm er undeutlich Schritte wahr, die sich entfernten. Wahrscheinlich waren es die Besucher, die noch vor einer halben Stunde diese Nische hier bestaunt und den Brunnen des heiligen Bernhardin aus Siena und die Zisterne aus dem 15. Jahrhundert bewundert hatten. Aus aller Welt kamen Menschen in dieses Kloster, da der heilige Bernhardin hier einst ein Wunder vollbracht hatte. Mit dem Zeichen des Kreuzes hatte er das salzige Wasser der Lagune zu köstlichem Trinkwasser verwandelt. Auf diesem winzigen Eiland waren schon einige Wunder geschehen: Angefangen hatte es irgendwann im Jahre 1220 des Herrn, als der heilige Franziskus bei seiner Rückkehr von der Reise zum heidnischen Sultan von Ägypten in einem Boot hier angelegt hatte und von den Schwalben der Insel mit freudigem Gezwitscher begrüßt worden war. Der heilige Bonaventura, Gott sei seiner Seele gnädig, hatte in der Legenda maior sogar geschrieben, dass der heilige Franziskus die wundersame Fähigkeit besessen habe, den Vögeln gleich von der Erde abzuheben. Damals, bei seiner Rückkehr aus Ägypten und Jerusalem, habe er das Gezwitscher der Schwalben verstanden und von ihnen den Auftrag des Allmächtigen erhalten, auf dieser kleinen Insel, eine Bootsstunde von Venedig entfernt, ein Haus zu Ehren Gottes zu erbauen. So waren zunächst eine kleine Kirche und dann dieses Kloster entstanden. Später hatte man dann zu Ehren des heiligen Franz von Assisi eine hölzerne Statue errichtet. Dem Künstler war es vortrefflich gelungen, das sanfte, von göttlicher Gnade und Weisheit geprägte Antlitz des Franziskus zu modellieren. Die Statue zeigte den bärtigen, schmallippigen Mönch mit tiefen Denkfalten auf der Stirn, das Haar ergraut, sein ausgemergeltes, von Enthaltsamkeit geprägtes Gesicht mit der schmalen Nase erhaben gen Himmel gerichtet. Ja, doch, der Mann in der braunen Kutte war ein Heiliger gewesen. Doch nun lag an dieser herrlichen Heiligenstatue eine schrecklich zugerichtete Leiche gelehnt.
Pater Giovanni lauschte gebannt den plötzlich knarrenden Scharnieren der Klostertür. Die Schritte, das monotone Murmeln der Besucher verstummten abrupt. Es wurde Furcht erregend still. Respektvoll beugte er sich über den Leichnam, schloss mit zittriger Hand die Lider der in Pein und
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