JULIA FESTIVAL EXTRA Band 06
ich hätte lieber ein Junge werden sollen, weil ich so groß bin. Aber ich bin kein Junge, sondern ein Mädchen, und …“
„Die sind nur neidisch, Liebling“, hatte Sarah Jane ihre Tochter getröstet. „Und natürlich bist du ein Mädchen. Ein sehr hübsches, kluges und liebenswertes Mädchen sogar.“
Die beiden waren wirklich ungewöhnlich groß, und als Teenager hatte vor allem Sam eine Phase durchgemacht, in der sie schlank, schlaksig, ja fast etwas jungenhaft gewesen war. Aber jetzt war sie eine Frau – und was für eine!
Als Sam erwachte, bemerkte sie, dass Liams sonst so dunkle Augen plötzlich zu leuchten schienen. Ob das mit dieser PR-Frau aus Washington zu tun hatte?
Allerdings konnte ihr das ja egal sein. Schließlich hatte sie selbst jemanden, auf den sie sich freute.
James.
Die Crighton-Männer waren wundervolle Väter. Bobbies Mann Luke war das beste Beispiel dafür. Und er war James’ Bruder …
Manchmal beneidete sie ihre Schwester um das idyllische Leben, das sie in England führte. Sie selbst hatte zwar aus der Schulzeit und vom College her viele Freundinnen, aber die lebten inzwischen im ganzen Land verstreut, und sie sahen sich nur selten. Bobbie dagegen wohnte in einer kleinen, überschaubaren Stadt, in der sie viele Freundschaften geschlossen hatte. Außerdem gehörte sie zu einer großen Familie, in der sich alle sehr nahestanden.
Sam war selbst in einem kleinen Ort in Neuengland aufgewachsen und wusste, dass eine solche Umgebung auch Probleme mit sich brachte. Jeder kannte jeden, und man konnte sich leicht eingeengt und kontrolliert fühlen. Aber in Sams Augen überwogen die Vorteile die Nachteile bei Weitem. Sie war ziemlich sicher, dass sie sich in Ehester oder Haslewich, wo der weit verzweigte Clan der Crightons lebte, wohler fühlen würde als in der anonymen Großstadt.
Je näher sie dem Flughafen kamen, desto dichter wurde der Verkehr. Wie mochte sie sein, Liams neue PR-Beraterin? Intelligent? Geistreich? Attraktiv? Wahrscheinlich alles zusammen und noch viel mehr, befürchtete Sam. Ihr Vater hatte jedenfalls äußerst beeindruckt geklungen.
Sam fragte sich, warum sie ihr unsympathisch war, obwohl sie die Frau noch gar nicht gesehen, geschweige denn mit ihr gesprochen hatte.
Liam hatte schon geparkt und öffnete die Fahrertür.
„Ich hole dir einen Gepäckwagen“, erklärte er.
„Hör auf, mich zu bemuttern“, bat sie scharf. „Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst einen Gepäckwagen zu holen. Ich bin ein großes Mädchen …“
„Und ich bin ein altmodischer Mann“, unterbrach er sie. „Warte hier …“
„Warte hier!“, wiederholte Sam entrüstet, doch noch bevor sie etwas hinzufügen konnte, war Liam schon verschwunden.
Dass er mit einem Gepäckwagen zurückkehrte, der nicht nur nicht quietschte, sondern auch leicht zu lenken war, erstaunte sie nicht. Wenn Liam etwas anpackte, machte er es richtig.
Stumm beobachtete sie, wie er ihre schweren Koffer auflud.
Erst als er darauf bestand, den Wagen für sie zu schieben, protestierte sie erneut. „Liam!“
„Was ist los mit dir?“, fragte er gereizt. „Du weißt, wo dein Problem liegt, nicht wahr?“ Er wartete ihre Antwort jedoch gar nicht ab. „Du hast Angst, eine Frau zu sein. Du hast Angst!“
„Unsinn“, widersprach sie wütend. „Ich …“
„Doch“, fuhr er fort. „Du bestehst sogar darauf, Sam und nicht Samantha genannt zu werden.“
„Weil es einfacher und schneller ist.“
Liam zog die Augenbrauen hoch. „Aber nicht annähernd so sexy.“
„Sexy!“ Sie funkelte ihn an.
„Hmm … Samantha …“ Er schien sich jede einzelne Silbe auf der Zunge zergehen zu lassen. „Samantha ist ein Frauenname, und wie bei einer Frau sollte ein Mann sich bei ihm Zeit lassen, ihn genießen und …“
„Danke für deine tiefenpsychologische Analyse“, fauchte Sam. „Aber ich habe ein Flugzeug zu bekommen. Also, wenn du dir Zeit lassen willst, schlage ich vor, du verbringst sie damit, auf deine neue PR-Beraterin zu warten. Vielleicht kannst du ihr mit deinem Gerede …“
„Siehst du, du tust es schon wieder. Wovor hast du wirklich Angst, Samantha? Ich glaube, du fürchtest dich gar nicht davor, zu wenig Frau zu sein, sondern davor, zu sehr Frau zu sein.“
Sam starrte ihn an. Ihr fehlten die Worte, was bei ihr selten vorkam. Sein sanfter Kommentar kam der Wahrheit gefährlich nahe. Dass jemand sie durchschaute und hinter ihr intimstes Geheimnis kam, war schlimm genug. Aber dass
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