Julischatten
seine Nachtaugen richteten sich auf ihr Gesicht. »In unserer Sprache gibt es kein Goodbye, weil wir Lakota glauben, dass man sich immer wiedersieht.« Er küsste sie. »Toksa aké, Sim.«
»Und was heißt das?«
»Bis wir uns wiedersehen.« Er räusperte sich. »Na ja oder einfach: Auf bald!«
»Toksa aké, Luke«, sagte sie, winkte ihrer Tante und lief los.
Drei Monate später, ein Montag Ende Oktober.
Sim stieg aus dem Schulbus und winkte Lena, der Neuen aus ihrer Klasse, die im August mit ihren Eltern nach Weisburg in die alte Ziegelei am Dorfrand gezogen war. Lenas Haare waren lang und sie leuchteten in einem durchdringenden Blau, genauso wie ihre Augen. Kontaktlinsen, indigoblau. Ein Mangamädchen.
Lenas Eltern waren Ökofreaks, die in der alten Ziegelei eine Töpferei aufbauen wollten. Sim hatte Lena schon ein paar Mal besucht und neulich waren sie zusammen am See gewesen. Lenas Ansichten waren ziemlich verschroben und lieferten dadurch eine Menge Diskussionsstoff. Irgendwie passten sie ganz gut zusammen.
Sim hatte sich entschieden, es mit dem Abitur zu versuchen, um später Textildesign zu studieren, etwas, von dem sie sich gut vorstellen konnte, dass es zu ihr passte.
Sie kam jetzt besser klar mit ihren Eltern. Und mit sich selbst.
Roos hatte ihr eine Mail geschickt. Ihre Eltern hatten sich getrennt und sie lebte jetzt bei ihrem Vater. Ihre Blutwerte hatten sich gebessert und sie hoffte wieder.
Auch von Tabea hatte sie eine Mail bekommen. Kein Text, nur das Foto. Jimi und Lukas mit Sim in der Mitte. Sie hatte sich mit Jimis Schildkrötenanhänger aufs Bett gelegt und den Tränen freien Lauf gelassen.
Von Lukas bekam sie regelmäßig E-Mails und sie telefonierten fast jede Woche miteinander. Sim hatte jeden Tag Sehnsucht nach ihm. Er ging aufs Oglala Lakota College in Kyle und strebte einen Bachelor in Lakota Studies und Social Work an. Jeden Morgen stieg er in den Schulbus, der ihn am Nachmittag wieder zum Horse Hill zurückbrachte.
Jo hatte vier von Junipers Welpen weggegeben, den kleinen grauen, der seiner Mutter so ähnlich sah, hatte Lukas behalten und rief ihn Little Wolf.
Bei ihrem letzten Telefonat hatte er von den Gerichtsurteilen erzählt. Der Richter hatte Bernadine zu fünfunddreißig Jahren Haft verurteilt. Tyrell hatte zwanzig Jahre bekommen, Chance, Debbie, Tunie, Teena, Nunpa und Marcus mussten für zehn Jahre hinter Gitter.
Das waren harte Urteile. Die hohen Strafen für Tyrell und Bernadine fand Sim berechtigt, aber die anderen waren noch Kinder. Sie dachte daran, dass auch Jimi – würde er noch leben – für mindestens zehn Jahre ins Gefängnis gegangen wäre. Clarence Runner hatte fünfzehn Jahre Jugendknast bekommen.
Auf dem Weg von der Bushaltestelle zu ihrem Haus begann es zu nieseln und Sim schob sich die Kapuze ihrer Regenjacke über den Kopf. Sie nahm die Post und die Zeitung aus dem Briefkasten und wie jeden Montag war der neue SPIEGEL dabei.
Sie warf den Rucksack in ihr Zimmer, holte sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank und ließ sich auf die Couch im Wohnzimmer fallen. Zuerst sah sie das Inhaltsverzeichnis des Magazins durch und diesmal wurde sie fündig.
Wie eine indianische Heldin im Gefängnis endete von Michael Holzapfel.
Sim schlug den Artikel auf und begann zu lesen.
Lukas saß vor seinem Computer und überlegte, wie er am besten anfangen sollte. Er hatte gerade gemeinsam mit Jo gegessen und sie hatte ihm erzählt, dass sie über Weihnachten nach Deutschland fliegen würde, um ihre Familie zu besuchen.
»Wie wär’s, wenn du mitkommst?«, hatte sie ihn unvermutet gefragt, und bevor er überhaupt etwas antworten konnte, hatte sie schon angefangen, Pläne zu machen und alles zu organisieren.
Der Flug war nicht teuer, er konnte ihn von seiner Behindertenrente bezahlen. Und nichts wünschte er sich mehr, als Sim wieder in den Armen zu halten. Doch was würden ihre Eltern sagen? Würde der blinde Freund ihrer Tochter willkommen sein?
Jetzt, wo er allein im Trailer saß, den kleinen Wolfshund zu seinen Füßen, und draußen der Oktoberwind um die Wände tobte, begann die Freude auf die Reise nach Deutschland und das Wiedersehen mit Sim, ihn von innen zu erwärmen. Selbst wenn ihre Eltern wenig begeistert sein sollten – er hatte ja Jo und Sim würde bei ihm sein.
Er, Lukas Brave, würde in ein Flugzeug steigen und in ein fremdes Land reisen, etwas, wovon er nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Etwas, das ihm auch ein wenig Angst machte, denn er
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