Kaeltezone
einmalige Chance für ihn sei, einen kommunistischen Staat von innen heraus kennen zu lernen, mit eigenen Augen den Sozialismus in der Realität zu sehen und eine Ausbildung zu machen, mit der er dem Land später von Nutzen sein konnte.
Der stellvertretende Parteivorsitzende setzte seine Brille auf.
»Und unseren Zielen. Du wirst dich dort wohl fühlen. Leipzig ist historisch bedeutsam und steht auch in Verbindung mit unserer eigenen Kulturgeschichte. Halldór Laxness reiste dorthin, um seinen Freund Jóhann Jónsson zu besuchen. Und unsere isländischen Volkssagen, die Jón Árnason gesammelt hat, wurden 1862 in Leipzig bei J.C. Hinrichs herausgegeben.«
Er nickte zustimmend. Er hatte alles gelesen, was Halldór Laxness über den Sozialismus im Ostblock geschrieben hatte, und er bewunderte ihn für seine Überzeugungskraft.
Die Familie überlegte, ob er auf einem Frachtschiff anheuern sollte, um sich das Geld für die Überfahrt zu verdienen. Einer seiner Onkel väterlicherseits kannte einen Mann bei der Schifffahrtsgesellschaft und hatte ihm bislang auch immer die Ferienarbeit am Hafen beschafft. Es gab keine Probleme mit der Schiffspassage, und die ganze Familie war im siebten Himmel. Keiner war in der Welt herumgekommen. Keiner von ihnen war jemals im Ausland gewesen, und schon gar nicht zu einem Universitätsstudium. Es schien alles wie in einem Märchen zu sein. Das Wunder wurde in Telefongesprächen und Briefen ausgiebig diskutiert. Aus ihm wird noch was werden, sagten die Leute. Zum Schluss wird er wohl gar noch Minister!
Zuerst legte das Schiff auf den Färöern an, dann in Kopenhagen, Rotterdam und Hamburg, wo er abmusterte. Von da aus nahm er den Zug nach Berlin und schlief ein paar Stunden nachts auf dem Bahnhof. Noch in derselben Nacht bestieg er den Zug nach Leipzig. Er wusste, dass niemand ihn in Empfang nehmen würde. Auf einem Zettel in seiner Jackentasche stand eine Adresse, und er würde so lange nach dem Weg fragen, bis er am Ziel war.
Er stand vor dem Abiturfoto, seufzte tief auf und betrachtete das Gesicht seines Freundes, mit dem er in Leipzig war. Im Gymnasium waren sie in dieselbe Klasse gegangen. Wenn er damals nur schon gewusst hätte, was geschehen würde!
Er überlegte, ob die Polizei tatsächlich die Wahrheit über den Mann im See herausfinden würde. Er tröstete sich damit, dass viel Zeit verstrichen war und niemand mehr ein Interesse an dem hatte, was damals passiert war.
Der Mann im Kleifarvatn ging niemanden mehr etwas an.
Vier
Das Zelt war über dem Skelett aufgeschlagen worden. Elínborg stand davor und beobachtete, wie Erlendur und Sigur- ður Óli mit raschen Schritten über den ausgetrockneten Boden des Sees auf sie zukamen. Der Abend war bereits fortgeschritten, und die Reporter waren weg. Nachdem bekannt wurde, dass ein Skelett auf dem Grund des Sees gefunden worden war, hatte der Verkehr auf der Straße zunächst zugenommen, aber jetzt war es wieder ruhiger geworden.
»Na, endlich«, sagte Elínborg, als sie eintrafen.
»Sigurður Óli musste sich unbedingt noch einen Hamburger reinziehen«, erwiderte Erlendur gereizt. »Was ist los?« »Kommt mit«, sagte Elínborg und öffnete das Zelt. »Die Gerichtsmedizinerin ist auch hier.«
Als Erlendur zum See hinüberschaute, der in der Abendstille ruhig dalag, dachte er an die Spalten auf dem Grund des Sees. Er schaute zum Himmel, wo die Sonne immer noch so hoch stand, dass es taghell war. Er starrte auf ein weißes Wolkenknäuel direkt über sich und musste unentwegt daran denken, dass der See dort, wo er jetzt stand, früher vier Meter tief gewesen war.
Die Mitarbeiter der Spurensicherung hatten das Skelett inzwischen freigelegt, und es war jetzt ganz sichtbar. Es gab keinerlei Reste von Haut oder Kleidung. Daneben kniete eine Frau von etwa vierzig Jahren, die mit einem gelben Stift etwas auf den Hüftknochen kritzelte.
»Es handelt sich um einen Mann«, sagte sie. »Mittelgroß und höchstwahrscheinlich so um die vierzig, aber das muss ich noch genauer feststellen. Ich weiß nicht, wie lange er im See gelegen hat, vierzig, fünfzig Jahre vielleicht. Möglicherweise sogar länger, aber das sind nur Spekulationen. Wenn ich die Knochen im Labor untersucht habe, kann ich vielleicht etwas präziser Auskunft geben.«
Sie stand auf und gab ihnen die Hand. Erlendur wusste, dass sie Matthildur hieß und gerade erst als Gerichtsmedizinerin angefangen hatte.
Er hätte sie gerne gefragt, warum sie sich auf Verbrechen
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