Kairos (German Edition)

Fälle etwas Übergeordnetes, Beglückendes, von allem Entbürdet, etwas, das seit jeher Bestand hatte, solange da war, wie das Universum existierte?
    Aber was genau? Nur Vermutungen, nichts Konkretes. Annahmen waren manchmal alles.
    Er würde es herausbekommen, wenn nicht auf Som, dann später, woanders, soviel stand fest.
    Draußen, hell wie brennendes Magnesium, strahlten die Sterne, völlig ruhig und ohne zu glitzern, weil die Atmosphäre fehlte. Es war das perfekte Weltraumpanorama.
    Protuberanzen. Sternenglanz.
    Dann, gespenstische Schatten, die von ihren eigenen Körpern auszugehen schienen. Eiko, Alain, sie alle blickten ungläubig an sich herab.
Das Göttliche in uns.
Es war, als entstünden Geistbilder von ihnen selbst, die sich in der Folge wieder verflüchtigten. Um sie herum tanzten und wirbelten winzige, kaum noch erkennbare Teilchen, wie Staubpartikel in einem Sonnenstrahl, wie Schwebeteilchen unter Wasser. Mal drängten sie sich dicht zusammen, dann wieder lösten sie sich voneinander und zerstieben. Alain mußte an einen gewaltigen Vogelschwarm oder eine Fischschule denken, und zugleich war es mit nichts zu vergleichen, was er kannte. Die ganze Szene war ein Ausbund grenzenlos fremder, rastloser Tatkraft. Die Kinder der Erde bestaunten das Schauspiel schweigend und gebannt.
    [Die Kräfte des Universums; kosmisches Sein...] flüsterte Galdea. [Der innerste Kern der geheimen Natur des Alls.
Rak ´shasa
. Das tiefe, dunkle Geheimnis. Die Allgewalt.]
    Alain dachte instinktiv:
der Kosmos als bewußter, sich selbst regulierender Organismus. Gott?
    Also doch.
    [Schöpfung.] sendete Galdea. [Der höchste Geist, der Zeit und Raum regiert.] Sie schien endlos erleichtert. Aber im Schatten dieser Erleichterung lauerte noch etwas anderes. [
Rak´shasa.
Die Energie. Endlich. Bald bin ich zuhaus.]
    Und niemand konnte mehr etwas sagen oder in den bislang gewohnten Bahnen denken.
    Ringsum wurde alles glasig, wie kristallin, dann gestaltlos. Das blaue Strömen flutete alles, ein liquider Regenbogen, ein Arrangement aus Formen und Farben, Navyblau, Indigo, Azur, Himmelblau ... Alain wußte, Himmelsblau war im Fall der Erde das Ergebnis komplexer Interaktionen zwischen dem Sonnenspektrum und der Bestandteile der Atmosphäre. Dies alles hier hatte nichts mehr mit der Erde zu tun. Er wurde das Gefühl nicht los, diese Farbe früher schon einmal gesehen zu haben. Tatsächlich war er der Meinung, sie bereits ein Leben lang zu sehen, mit offenen Augen ständig zu betrachten, ohne aber diesen Umstand jemals wahrgenommen zu haben.
    Milliarden brillante Farben, Billionen schillernde Facetten. Der Weltraum verschwand hinter einer solid wirkenden Wand, die phosphoreszierte und durch die hin und wieder riesige Blitze von der Form komplexer geometrischer Figuren zuckten. Ein Tunnel entstand, an dessen Ende ein quirlender Strudel. Dahinter waren Sterne, vorne blau, hinten rot.
    Die Insassen der
Gaia
spürten den Wandel. Im Freien Fall sahen sie das Letzte, Unendliche. Ihre Augen – der Verstand dahinter – weigerte sich, die schier unermeßlichen Proportionen und Veränderungen der Umgebung zu deuten. Aber ihre Geister taten es. Sie blickten tausende Parsec weit, und über allem lag dieser Gesang, und das blaue Leuchten überkuppelte den Gesang. Völlige Identifikation; es war, als schrie das Herz des Universums nach ihnen – ein Herz in ihnen selbst.
    Sie folgten dem Ruf, und dann ging die Reise erst richtig los.
    Die
Gaia
schoß in den rasenden Strudel des Überlichtkontinuums, stürzte ins Antlitz abermilliarder Sterne.
    Sie wußten nicht, wie sie sich fühlen sollten: unglücklich – ekstatisch. Da war Argwohn vor dem Unbekannten; Schmerz, wenn man seine Heimat verliert. Auch ein Gefühl von Einkehr und Gleichgewicht, das Empfinden, unbedeutend und grenzenlos zugleich zu sein. Es war einmalig.
    Vom Wirbeln der Quarks bis zur Rotation der Galaxien, die Zäsur ging weiter.
    Protuberanzen. Sternenglanz.
    Der Blaue Ozean.
    Die Erde blieb zurück.