Kalla vom Loewenclan - Abenteuer in der Steinzeit
du bist ein Mann von Ehre. Nach dem Gesetz Leben gegen Leben soll also Yonna deine Gefährtin sein, wenn sie es will.«
Yonna wandte sich an ihre Mutter und neigte den Kopf. Mit steinerner Miene hob Mutter Sina die Hand und legte sie auf die Stirn der Tochter. Yonna dankte mit einem Nicken, dann ging sie zu Mauk und stellte sich neben ihn.
»Ich auch!«, rief Kalla und wandte sich an Mutter Sina. »Bitte lass mich mit ihnen gehen, Mutter Sina, bitte!«
Die Augen der großen hageren Frau wurden schwarz vor Entsetzen. Hilflos streckte sie ihre Arme aus. Ihre Hände öffneten sich, schlossen sich und öffneten sichwieder, als versuchten sie, etwas festzuhalten, was ihr längst entglitten war. Fassungslos sah Mutter Sina auf ihre leeren Hände.
Da durchströmte Kalla ein heißes Gefühl. Nie hatte sie die Mutter so sehr geliebt wie in diesem Augenblick. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie umschlang den Leib der Mutter, atmete den vertrauten Geruch. Von jeher hatte sie in dieser Wärme Schutz und Sicherheit gefunden. Nein, niemals würde sie von hier fortgehen. Wie konnte sie auch nur daran denken, Mutter Sina zu verlassen?
Der Hals wurde ihr eng, die Knie zitterten. Sie vergrub das Gesicht in Mutter Sinas Schoß und klammerte sich an sie. Doch dann war ihr, als zerrisse plötzlich ein dunkler Vorhang. Mit einem Schlag war es strahlend hell, und in der Ferne leuchtete ein weites Land. Die Sonne schien, und eine Wolke in Wolfsgestalt zog nach Westen, wo ein großes blaues Wasser glänzte. Und plötzlich war sie wieder da, diese sonderbare, übermächtige Sehnsucht, aufzuspringen und fortzulaufen, immer weiter, bis zum Großen Wasser. Unvermittelt löste sie sich von der Mutter.
»Ich will mit Yonna gehen«, bat sie. »Und mit Tomo. Bitte!«
Mit starrem Blick sah die Mutter über sie hinweg.
Da trat Loas zu Mutter Sina. In der Hand hielt er einen kleinen Zweig.
»Nicht nur die Sonne, auch Ahnvater Torok hat gesprochen«, sagte er und deutete auf das Otterbachtal.
»Schau auf unser Land, Mutter Sina. Der Sturm hat es verwüstet und uns vieles genommen. Nur Toroks Baum ist unversehrt geblieben, bis auf diesen kleinen Zweig, der sich von seinen Ästen gelöst hat. Sieh her, Mutter Sina, es ist ein Zweig mit jungen Trieben. Ama wird ihm neue Wurzelngeben, und er wird heranwachsen zu einem neuen Baum. Und dennoch wird seine ursprüngliche Wurzel immer die von Toroks Baum sein. So wird es auch mit Kalla geschehen, wenn sie fortgeht. Sie wird neue Wurzeln finden und ihre eigene Geschichte leben, und doch wird sie für immer mit uns verbunden bleiben. Dies ist die Botschaft, die Ahnvater Torok uns sendet: Alle Menschen, die vor uns gelebt haben, und alle, die nach uns leben werden, sind wie Zweige, die von einem einzigen Baum abstammen.«
Mutter Sina sah ihn aus flammenden Augen an und schüttelte heftig den Kopf. Dann sank sie wortlos zusammen und fiel zu Boden.
S
o
habe ich es gehört und gesehen, ich, Kirt vom Antilopenclan, Schutzbefohlener des Schneehasengeistes. Mutter Sina war in den kleinen Tod gefallen. Doch bald kehrten ihre Geister wieder zurück. Und sie erhob sich und ließ auch die jüngste Tochter in Frieden ziehen.
Schon am nächsten Tag brachen sie auf: Kalla und Tomo, Atlin und Roor, Yonna und Mauk. Ich ging einige Tage mit ihnen, wir zogen nach Westen. Dann verlor ich ihre Spur, doch habe ich gehört, dass sie nach Süden zu den großen Bergen reisten. Jedenfalls behauptete ein Händler vom Reiherclan, sie dort gesehen zu haben.
Zwei Frauen vom Bisonclan hingegen erzählten, sie hätten einen großen Mann mit fünf Gefährten am Grünen Fluss wandern sehen, hinüber nach Westen. Später traf ich einen Mann vom Rentierclan, der schwor, er habe sie nach Norden gehen sehen: Vier Männer und zwei Frauen, eine davon noch fast ein Kind. So sind sie wohl überall gewesen, Mauk und die Seinen, hier und dort, auf der Suche nach den Feuerpferden.
Fragt mich nicht, ob sie sie gefunden haben. Ich weiß es nicht, denn hier endet meine Geschichte von dem Mädchen Kalla und wie sich ihr Weg mit dem Weg von Mauk, dem Herrn der Feuerpferde, kreuzte.
Doch eines Tages werden wir erfahren, wie es weitergegangen ist. Denn keine Geschichte hat ein Ende, so wie das Feuer des Lebens niemals verlöschen wird. Wir sehen: Manchmal fällt Asche über die Flammen. Doch dann kommt der Wind und bläst die Asche fort und entfacht die Glut aufs Neue. So ist es gewesen und so wird es immer sein, so wahr ich Kirt bin, Kirt
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