Kalt ist der Abendhauch
Albert gekannt haben, Hugo gehört zu ihnen. Als Hugo zum ersten Mal in unser Haus kam, war Albert bereits seit Jahren im Internat.
Bei einer Schulweihnachtsfeier hatte Albert seinen ersten Bühnenerfolg als Engel. Er war noch nicht im Stimmbruch und sang im weißen Gewand Vom Himmel hoch mit angeblich überirdischer Stimme. Als er in den Ferien heimkam, kannte er nur eines: mit mir zusammen »Maria und Joseph« spielen. Hulda, der wir längst entwachsen waren, gab sich noch einmal als Jesuskind die Ehre. Albert übernahm die Rolle der Maria, einiger Engel und des Ochsen, ich mußte für Esel und Joseph herhalten. Wir lachten dabei Tränen. Andererseits wußten wir, daß es ein ziemlich kindischer Spaß war, und hielten unsere Proben vor dem Rest der Familie geheim. Unsere Weihnachtskomödie fand auf dem kalten Dachboden statt.
Als Albert in seiner Theatergruppe die Rolle der Maria Stuart spielte, war er natürlich älter. Vielleicht war es der größte Erfolg seines Lebens, und es störte ihn nicht, daß er fortan in der Schule »Maria« genannt wurde. Ich war das Theaterspielen inzwischen leid und stieg daher in den Ferien ohne große Begeisterung mit Albert auf den Boden. Dort zog er mein Ballkleid an und deklamierte Dramen; eigentlich betrachtete ich meinen Bruder als zu alt für derlei Unfug, aber aus Treue blieb ich ihm wenigstens als Publikum erhalten. Allerdings hatte ich den Verdacht, daß er auch mutterseelenallein vor dem Spiegel seine Rollen probte, denn immer wieder fehlten mir Kleider, Schmuck und Schuhe.
Unser Vater hatte ein steifes und zu kurzes Bein, das ihn im Ersten Weltkrieg vor dem Kriegsdienst bewahrt hatte. Da sein Bruder in Verdun gefallen war, schien er ein schlechtes Gewissen zu haben, denn seine beiden ältesten Söhne mußten mittels einer gewaltigen Zinnsoldatenschar historische Schlachten nachspielen und wurden von ihm zu martialischer
Gesinnung herangebildet. Andere Eltern kauften ihren Söhnen damals in den Nachkriegsjahren lieber kleine Bauernhöfe oder Zootiere aus Elastolin. Ich will nicht unbedingt behaupten, daß Heiner und Ernst Ludwig bloß wegen dieser Erziehung im Zweiten Weltkrieg fielen. Doch hätte Miele meinen Bruder Heiner geheiratet, wäre sie noch früher Witwe geworden.
Mein Vater war zwar gelernter Schuhmacher (wobei seine besondere Liebe orthopädischen Schuhen galt, die er ja auch selbst benötigte), er hatte aber in einen großen Schuhladen eingeheiratet und arbeitete nicht mehr eigenhändig in der zugehörigen Werkstatt. Es war ein großes Problem, welcher der Söhne das Geschäft übernehmen sollte: Die Großen gaben sich uninteressiert, Albert wurde nicht für voll genommen. Als sich Ida mit Hugo verlobte, witterte mein Vater Morgenluft, denn Hugo stammte auch aus einer Kaufmannsdynastie; allerdings ging es dort um feinere Ware: Sein Vater besaß einen Juwelierladen. Hugo durchkreuzte die Pläne beider Väter und studierte. Aus romantischen Gründen wollte er Förster werden. Als ich ihn kennenlernte, trug er bereits einen grünen Anzug, obgleich er die Forstakademie erst seit kurzem besuchte.
Ida begann damals, Lieder von Hermann Löns zu singen, Fanni begleitete sie auf dem Klavier. Ständig war von Wald und Heide, von roten Rosen und heißen Küssen die Rede. Ich hörte es voller Wut und störte sie durch alberne Fragen oder Poltern im Nebenzimmer. Eines Tages sang Ida:
»Was die grüne Heide weiß, geht die Mutter gar nichts an, niemand weiß es außer mir und dem jungen Jägersmann... «
Früher hatte ich meine große Schwester, die fünf Jahre älter als ich war, geradezu verehrt, jetzt begann ich sie zu hassen. Ich stiftete die kleine Alice dazu an, Idas Abzieh- und Reklamebildchen von Stollwerk und dem Erdalfrosch zu stehlen. Albert und ich teilten ihre Künstlerpostkarten unter uns auf. Der Schwarm aller jungen Mädchen war damals der Schauspieler Lothar Müthel, und Ida besaß zwanzig Karten mit seinem Autogramm.
Ida war schlank und elegant, ein rechtes Stadtkind, sicherlich für ein Leben in einem Odenwälder Forsthaus völlig ungeeignet. Seit sie achtzehn war, half sie meinem Vater im Geschäft. Entweder saß sie an der Kasse, oder sie beriet besonders betuchte Kunden. Mein Vater hatte eine kleine Vitrine mit handgefertigten Schuhen - die große Masse stammte damals bereits aus einer Fabrik -, die fast zu schön zum Tragen waren. Ida verstand es unnachahmlich, einen solchen Schuh mit dem Absatz in vier Finger der linken Hand einzuklinken
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