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Die Chronistin

Die Chronistin

Titel: Die Chronistin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Prolog
Anno Domini 1245
Damenstift zu Corbeil
    Wo man die Tote berührte, löste sich die äußerste Schale ihres vertrockneten Körpers. Es war nicht gewiss, ob es verweste Haut war oder steif gewordener Stoff von Kleidern, der zu grauem Staub zerbröselte und lautlos auf den Boden fiel.
    Entsetzt zuckten die neugierigen, tastenden Hände zurück und ließen die Tote so unberührt hocken, wie man sie vorgefunden hatte – in einem stickigen, fast luftleeren Raum unter Altar und Sakristei, der den Leichnam ausgetrocknet und mit Spinnweben überzogen hatte, anstatt ihn der Verwesung preiszugeben.
    Ohne zerstörendes Zupacken waren die Spuren des Todes fast unkenntlich. Obgleich seit vielen Jahren vom Ewigen Schlaf gefangen gehalten, glich die hockende Frau einer seelenruhigen Madonna, der das Christuskind aus den weit ausgebreiteten Armen gerutscht war. Keiner ihrer Finger war abgefallen. Ihre Hände waren lediglich braun verschrumpelt, wie Äpfel, die man in den frostigen Tiefen eines Kellergewölbes vergessen hatte.
    Ein ungestümer Luftzug jedoch hätte genügt, dass der von innen her getrocknete Leichnam jene Gewissheit bekräftigt hätte, wonach der Mensch von Staub kommt und zu Staub wird und einzig der Glaube an den Leben spendenden Herrn des grausamen Waltens des Todes spottet.
    Unsicher blickten sich die Schwestern an und ließen die bebenden Hände in fuchtelnden Bewegungen die Öllampen kreisen – gewiss, dass die Tote ebenso lange kein Licht gesehen hatte wie den Atem eines lebendigen Windhauchs gerochen. Beides musste viele Jahre her sein, denn die Frau, deren Haut hier zu braunem, brüchigem Leder gegerbt war, galt seit langer Zeit als verschollen.
    Gleichwohl sie nie daran hatte zweifeln lassen, den Abend eines langen Lebens in diesem Damenstift zubringen zu wollen, war sie eines Tages weder zur morgendlichen Messe gekommen noch zum stärkenden Mahl. Man wähnte sie schlafend und gönnte es ihr, sich auszuruhen. Doch als sie am Abend immer noch nicht erschienen war, setzte eine unruhige Suche ein, zuerst im Damenstift, dann in den umliegenden Wäldern. Wieder und wieder hatte man ihren Namen gerufen und sich gefragt, wie eine solch hoch betagte Frau freiwillig ihre sichere Heimstätte hatte verlassen können. Unmöglich aber war es auch, dass sie sich ohne Willen verirrt hätte – ihr Geist war rege wie der einer jungen Frau und jede ihrer Handlungen gewollt und überlegt. Selbst lange nachdem man die nutzlose Suche eingestellt hatte, war das Getuschel über ihr Verschwinden nicht verstummt, sondern hatte sich in die schaurige Mär verzweigt, wonach niemand anderer als der dunkle Engel des Teufels die alte Frau aus dem Damenstift entführt haben müsste.
    Nun war jene Vermutung nichtig.
    »Sie kann keine andere sein als...«, setzte eine der Schwestern zu sprechen an, rang in der Enge des Raumes nach Luft, aber fuhr nicht fort.
    Sie hatten die tote Hockende aus Zufall gefunden, waren auf den abgedichteten Raum nur gestoßen, weil die Apsis über dem Altar einen Sprung aufwies und man nach Wegen suchte, diesen durch eine ausreichende Stützung von unten her zu schließen oder zumindest am Wachsen zu hindern.
    Die anderen Schwestern nickten wissend. Wiewohl er nicht ausgesprochen worden war, wähnten sich alle gewiss, welchen Namen die Sprechende auf den Lippen trug. Ohne Zweifel war die Tote Ragnhild von Eistersheim, besser bekannt unter dem Namen Sophia, die Weise, der ihr in früher Kindheit ob ihrer außergewöhnlichen Gelehrsamkeit verliehen worden war und den sie am liebsten getragen hatte. Sie war die Älteste unter den Schwestern, die im Damenstift lebten, und die Wortkargste. Nicht mehr verriet sie von sich, als dass sie an einer Chronik schrieb – von deren genauem Inhalt wusste niemand – , und selbst das geschah stets schroff und bar jeglicher Freundlichkeit.
    Ja, wer sie war, galt als Gewissheit.
    Um vieles unbestimmter aber gerieten die Vermutungen, warum man sie eben gefunden hatte: Wie war sie hierher geraten? Hatte man sie womöglich mit gemeinem Vorwand hergelockt und in solch verstecktem Raum zu Tode gebracht?

Kapitel I.
Anno Domini 1184 bis 1188
    Sophia schrieb es auf.
    Sie schrieb auf, wie die beiden Novizinnen Schweine schlachteten, die von der Eichelmast im Oktober fett geworden waren, wie das Blut der schrill quietschenden Tiere in den matschigen Schnee tropfte und wie hernach die zwei Frauen auf den dreckigen, grau–rot verschmierten Boden sanken, um einander zu

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