Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalt, kaltes Herz

Kalt, kaltes Herz

Titel: Kalt, kaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keith Ablow
Vom Netzwerk:
war es kurz nach ein Uhr mittags. stieg die Treppe hinauf zu Kathys Büro in der Station für Gynäkologie und Geburtshilfe, aber sie war gerade zu einer Entbindung gerufen worden. Also hatte ich eine Stunde Zeit, und die wollte ich nutzen. Ich ging in die Registratur.
    Das Archiv bestand eigentlich nur aus einem langen Raum, der aussah wie die überfüllte Schublade eines Aktenschrankes. Ray, der kleingewachsene Schwarze, der sie seit über dreißig Jahren verwaltete, wühlte wie immer in den Papierstapeln auf seinem Schreibtisch. Ich unterbrach ihn mit der Bitte, doch einmal in den Krankenakten nachzusehen, ob Westmoreland je in Stonehill behandelt worden war.
    Er musterte mich über den Rand seiner Lesebrille hinweg. »Was hat der Mann denn angestellt?«
    »Wer sagt, daß er was angestellt hat?«
    »Ein gewisser Officer Malloy hat angerufen und mich gebeten, die Akte für ihn herauszusuchen. Er kommt mit einer gerichtlichen Anordnung vorbei.«
    »Also war Westmoreland tatsächlich hier Patient?«
    »Wäre komisch, wenn er eine Akte hätte, ohne Patient gewesen zu sein – auch wenn ich hier die Ablage mache.«
    »Darf ich sie sehen?«
    Er fing wieder an, in seinen Papieren zu wühlen. »Erzählen Sie mir erst mal, was an dem Kerl so besonders ist.«
    »Vielleicht hat er jemanden umgebracht.«
    Ein weiterer Blick über den Brillenrand. »Das ist doch heutzutage nichts Besonderes. Vor allem nicht in Lynn.« Am liebsten hätte ich ihm ins Gesicht geschrien, daß Westmoreland Sarah Johnston die Brüste abgeschnitten hatte, aber ich beherrschte mich. »Ray«, sagte ich, »ich brauche diese Akte.«
    »Ich habe Ihnen bereits erklärt, daß die Polizei sie abholt.«
    »Doch im Moment ist sie noch da.«
    »Schon, aber ...«
    »Nur ein Viertelstündchen.«
    Er musterte mich argwöhnisch. »Ich habe so meine Erfahrungen mit Ihnen, Doc. Sie geben die Akten zu spät zurück. Sie verlieren sie. Sie kippen Kaffee drüber. Sie brennen mit der Zigarette Löcher rein.«
    »Ich lese sie hier vor Ihren Augen. Sie können zuschauen.«
    »Glauben Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun? Anscheinend ist es Ihnen zu Kopfe gestiegen, daß sämtliche Schwestern hinter Ihnen her sind. Sie reden in der Kantine über Sie: ›Haare wie ein Rockstar.‹ ›Schultern wie ein Footballspieler.‹ Wenn man denen so zuhört, könnte man meinen, daß Sie überhaupt nicht aussehen wie ein Psychiater.« Er holte die Akte unter seinem Tisch hervor und gab sie mir. »Aber bleiben Sie in der Nähe«, warnte er. »Sie sind ein Goldstück.«
    »Übertreiben Sie's nicht.«
    Ich zog mich mit der Akte in eine Sitzecke gegenüber von seinem Büro zurück und fing an zu lesen. Der Vermerk des Psychiaters, der Westmoreland aufgenommen hatte, trug das Datum 11. Dezember 1992:
    Personalien:
Der Patient ist männlich und mittleren Alters. Wohnsitz unbekannt. Er wurde von der Polizei in die Notaufnahme eingeliefert und danach in der geschlossenen psychiatrischen Abteilung untergebracht. Seinen Namen gab er mit General William
C
Westmoreland an.
    Aktuelles Krankheitsbild:
Nach Aussage der Polizei stahl Mr. »Westmoreland« heute während der Messe eine marmorne Madonnenbüste vom Altar der Church of Angels. Die Beamten fanden ihn auf einer Parkbank sitzend vor, wo er die Statue umarmte. Auf die Frage nach dem Grund antwortete er, er sei in die Statue verliebt und beabsichtige, sie zum Leben zu erwecken und zu heiraten.
    Bei der Einweisung wiederholte der Patient, er habe die Macht, der Madonna »Leben einzuhauchen«. Er war äußerst aufgebracht, weil ihm die Statue abgenommen worden war. Seine Stimmung schwankte zwischen Aggression und Niedergeschlagenheit. Während unseres Gesprächs brach er einige Male in Tränen aus.
    Mr. Westmoreland reagierte nicht auf Fragen, wie er seine augenblickliche Situation beurteilte, sondern schien von inneren Stimmen in Anspruch genommen. Wahrscheinlich leidet er sowohl unter akustischen als auch unter visuellen Halluzinationen.
    Der Patient stritt Tötungsphantasien ab, schwieg aber, als ich ihn auf Suizidgedanken ansprach.
    Die toxikologische Untersuchung von Blut und Urin erbrachte keinen Hinweis auf Alkohol- oder Drogenmißbrauch. Die Tatsache, daß der Patient den Namen eines bekannten Generals angenommen hat, gibt Anlaß zu der Vermutung, daß er Veteran des Vietnamkrieges ist. Allerdings bestätigt er selbst das nicht. Außerdem weigert er sich, seine Sozialversicherungsnummer, seine letzte Adresse oder seinen wirklichen

Weitere Kostenlose Bücher