Kalte Spur
dunkelviolett bis schwarz verfärbt und war mit winzigen, hellgelben Haken übersät. Nach längerem Hinsehen bemerkte er, dass die Haken sich wanden: Maden. Von den Schnitten abgesehen, entdeckte er an dem Kadaver keine äußeren Wunden.
Joe wandte den Kopf ab, um einen tiefen Atemzug zu nehmen, machte einen Schritt vor, hockte sich hin und ergriff einen der steifen, knochigen Vorderläufe. Dann erhob er sich ächzend, nutzte das Bein als Hebel, wand sich um das mächtige, palmwedelartige Geweih herum und versuchte mit aller Kraft, den steifen Kadaver zu drehen. Das schiere Gewicht des Tiers nahm ihm kurz den Wind aus den Segeln, und er fürchtete, den Halt zu verlieren und auf den verrottenden Fleischberg zu stürzen. Schlimmer noch, wenn der Vorderlauf aus
der verwesenden Schulter brach und er nur noch eine lange, haarige Keule in Händen hielt? Doch mit einem ekelerregend schmatzenden Geräusch löste sich der Kadaver vom Boden und bewegte sich langsam auf ihn zu. Joe zerrte noch mal am Lauf und sprang zurück, als der Bulle auf die andere Seite rollte. Im Leib des Kadavers blubberten Gase. Er suchte die mit Grashalmen bedeckte Unterseite des Tiers nach Wunden ab. Wieder nichts.
Er hatte erwartet, der Boden wäre – wie bei gewilderten Tieren üblich – von geronnenem Blut schwarz. Die Eintrittswunde war oft schwer zu entdecken, doch die stark blutende Austrittswunde hinterließ meistens einen schwarz-roten Pudding auf der Grasnarbe. Unter dem Elch jedoch befand sich kein Tropfen Blut, nur weitere Insekten, die herumkrabbelten und der Sonne zu entfliehen suchten.
Joe trat zurück und blickte sich um. Im saftigen, dichten Gras waren keine Spuren zu entdecken, wie ihm jetzt erst auffiel. Als er den Hang hinuntersah, den er heraufgekommen war, hoben sich seine Fußabdrücke deutlich vom trocknen Gras ab. Der Elch schien sich die Mitte der Wiese ausgesucht zu haben, um einfach tot umzufallen. Wer aber mochte Genitalien und Drüsen des Tiers und sein halbes Gesicht entfernt haben, ohne auch nur einen Fußabdruck zu hinterlassen?
Er zog das Halstuch vom Mund. Sein Koffer mit dem Besteck zur Untersuchung von Tierleichen lag im Pick-up, und der stand eine Stunde weit entfernt. Bald würde es dämmern, und er hatte Marybeth versprochen, die Mädchen rechtzeitig zum Abendessen und den Schulaufgaben nach Hause zu bringen. Er rechnete damit, bei seiner Rückkehr am nächsten Tag mit Hilfe des Bestecks und eines Metalldetektors ein, zwei Kugeln im Kadaver zu finden. Meist blieb das Blei in der Austrittswunde stecken.
Joe ging zu Sheridan und Lucy zurück. Sie hatten die Wiese hangabwärts verlassen und standen nah genug, um ihn zu beobachten, aber weit genug entfernt, damit ihnen von dem Gestank nicht übel wurde. Jeff und Cindy waren nirgends zu sehen.
Auf ihrem Rückweg zum Crazy Woman Creek bombardierten die Mädchen ihn mit Fragen.
»Wer hat den Elch getötet, Dad?«, wollte Lucy wissen. »Ich mag Elche.«
»Ich auch. Und ich weiß nicht, wie er zu Tode kam.« »Es ist doch seltsam, ein Tier einfach so aufzufinden, oder?«, fragte Lucy erneut.
»Sehr seltsam«, bestätigte Joe. »Es sei denn, jemand hat es erschossen und liegen gelassen.«
»Das ist ein Verbrechen, nicht – ein richtig schweres?«, erkundigte sich Sheridan.
Joe nickte.
»Hoffentlich findest du raus, wer das war«, sagte sie, »und sorgst dafür, dass er so was nie mehr tun kann.«
»Ja«, pflichtete Joe ihr bei, doch er war in eigene Gedanken versunken. Neben der Verstümmelung und dem Fehlen von Spuren ringsum beunruhigte ihn noch etwas anderes, ohne dass er hätte sagen können, was. Da beobachtete er einen Waschbären vor ihnen durch eine ruhige Stelle des Creeks plantschen und in einem Wäldchen verschwinden. Das Tier hatte einen der toten Fische gefunden, die Jeff »freigelassen« hatte.
Unvermittelt blieb er stehen. Genau, dachte er: Der Elchbulle ist seit Tagen tot und liegt in der freien Natur, und kein Tier hat sich über ihn hergemacht. Die Berge waren voller Aasfresser – Adler, Kojoten, Dachse, Habichte, Raben, selbst Mäuse –, die Kadaver normalerweise weit vor ihm fanden.
Mithilfe der Elstern, die sich kreischend über tote Tiere hermachten, hatte Joe eine Menge Wild gefunden, das von Jägern angeschossen oder liegen gelassen worden war. Doch von den Schnitten abgesehen, hatte der Elch unberührt gewirkt.
Eine Front aus dichten Wolken schob sich vor die Sonne und ließ die Temperatur in ihrem Schatten rasch um
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