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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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ohne eigentlichen Weg. Stundenlang in großer Höhe und mit unverstellter Aussicht. Er sah sich irgendwo Rast machen, schauen: nach Osten zum Karwendelgebirge, nach Westen zum Alpspitz-Zugspitzmassiv und nach Norden zu den vorgelagerten Gebirgsgruppen, die kleiner waren, unspektakulärer und doch schön: die Ammergauer Alpen, das Estergebirge, die Bayerischen Voralpen mit der Benediktenwand. Nur der Blick nach Süden war verstellt. Schade, dachte er. Denn dort, im Süden, wusste er die gletschergekrönten Gipfel der Stubaier und der Zillertaler Alpen.
    Er träumte.
    Mit offenen Augen träumte er.
    Sonst hätte er vielleicht bemerkt, dass irgendetwas nicht stimmte.
    Der Steig war schmal, das Gelände abschüssig. Linker Hand setzte eine Steilflanke an, über die vor Urzeiten ein Bergsturz herabgegangen sein musste. Da war weit oben ein großes Stück vom Berg abgebrochen und herabgestürzt. Zahllose, weit verstreute Felsbrocken, oft mannshoch und noch höher, zeugten von diesem gewaltigen Naturereignis.
    Er hörte den schrillen Schrei einer Bergdohle.
    Das war alles. Und er dachte, morgen am Grat würde er auf die Bergdohlen treffen, und sie würden ihn mit ihren Flugkunststücken beeindrucken, sie würden ihn um etwas zu fressen anbetteln, und bestimmt wäre mindestens eine dabei, die ihm ein Brotstückchen direkt aus der Hand picken würde.
    Er ging auf eine Engstelle des Weges zu, schaute dabei in den Himmel, suchte die Dohle und schaute zum Grat. Die Engstelle wurde aus einem riesigen Block linker Hand und einem etwas kleineren rechts gebildet. Wenn ihm hier jemand begegnet wäre, hätten sie es wohl nur gerade so geschafft, aneinander vorbeizukommen. Aber er war ja allein.
    Er war allein und er träumte.
    Er stand vor dem Felsentor.
    Einen Moment lang zögerte er: ob es sich lohnte, den Fotoapparat auszupacken? Das Licht war nicht ideal. Er ließ es sein.
    Er ging weiter. Staunte. Machte einen Schritt und noch einen.
    Er ging durchs Tor hindurch.
    Ein fürchterlicher Schlag traf ihn seitlich am Kopf. Es war ihm, als würde er seinen Schädel aufplatzen hören. Schreien wollte er, aber es kam kein Laut aus ihm heraus. Stehen bleiben wollte er, versuchte noch einen Ausfallschritt, aber die Knie gaben nach, er spürte sich niedersinken, alle Kraft war binnen einer Sekunde aus seinem Körper geströmt.
    Der Gedanke, den er in diesem Augenblick zu fassen vermochte (war es noch ein Gedanke? Oder war es nur mehr ein Reflex seines Gehirns?), war: Steinschlag!
    Ein Stein musste aus größerer Höhe frei gefallen sein, ohne zuvor noch aufzuschlagen, sonst nämlich hätte er etwas gehört und wäre gewarnt gewesen.
    Steinschlag!
    Jetzt hat es mich also erwischt … hat es mich also doch erwischt … so ein Stein … hier hat es mich erwischt …
    Im Niedersinken sah er neben sich etwas Dunkles, Schattenartiges.
    Er schlug mit den Knien auf dem steinigen Weg auf, mit den Armen und dem Oberkörper fiel er auf den Wegrand. Er spürte keinen Schmerz, nicht den geringsten. Gar nichts spürte er mehr. Ihm schwanden die Sinne. Was er hörte, war ein Rauschen in seinem Kopf, als würde ein tobender, zerstörerischer Wildbach hindurchfließen. Was er sah, war kein Bild mehr – nur mehr Schwarz und Grau. Lediglich unterbrochen vom Aufflackern eines hellen Schimmers.
    Was er spürte? Nichts, nichts, nichts mehr.
    Sein Körper war eine nutzlos gewordene Schale, hohl, leer.
    Und dann spürte er doch etwas. Es war mehr eine Ahnung als ein Spüren. Es war ein Phantomgefühl: Er, der keine Gefühle mehr hatte, dem sie von einer auf die andere Sekunde abhandengekommen waren, fühlte doch noch etwas. Wie er so dalag, war er sich ganz sicher, dass jemand direkt neben ihm stand. Er glaubte, Fußspitzen an seinem Rumpf zu spüren, glaubte, die Wärme zu fühlen, die von diesem Menschen ausging, und glaubte, nicht allein zu sein.
    Und dann spürte er tatsächlich, dass dieser Mensch, den er nicht sehen konnte, weil sein Augenlicht fast völlig gebrochen war und weil ihm wahrscheinlich zudem noch das Blut in Strömen übers zur Seite gedrehte Gesicht lief, dass dieser Mensch sich bückte, zu ihm herunterbückte, um ihm zu helfen.
    Er fragte sich nicht, woher dieser Mensch plötzlich gekommen sein konnte. Hätte er noch einen Hauch Erinnerungsvermögen besessen, er hätte sich das gefragt. Aber so …
    »Aahnch …«
    Mannhardt versuchte, etwas zu sagen. Diesem Menschen neben ihm zu sagen, was ihm geschehen war, warum er da lag, warum er seine

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