Kalter Fels
fragte sich, wie es ihr und ihm in den Calanques ergehen würde.
Sie fuhren fast die ganze Nacht durch, abwechselnd am Steuer sitzend und auf dem Beifahrersitz dösend. Im Winter beginnen die Nächte früh, und so sahen sie schon ab Trient nichts mehr von der Landschaft. Erahnten das Gebirge nur an den Lichtern hochgelegener Dörfer, Weiler oder einsamer Bauernhöfe.
Bei Verona traten die Alpen zurück, sie kamen in die Po-Ebene und waren nun gezwungen, noch langsamer zu fahren: Wie so oft um diese Jahreszeit herrschte dichter Nebel.
Als sie morgens um zwei die Riviera erreichten, verließen sie die Autobahn und tuckerten hinunter zu einem der jetzt ausgestorben wirkenden Küstenorte. Sie parkten dort, wo der Strand anfing, holten im Schein ihrer Stirnlampen Isomatten und Schlafsäcke aus dem Kofferraum und legten sich, keine fünfzehn Meter vom Meeressaum entfernt, in den Sand.
Wie mild es hier ist, dachte Marielle. Sie spürte Pablos Gutenachtkuss auf der Wange, sie hörte das Meer ganz unaufgeregt atmen, sie sah die Sterne, doch die wollte sie nicht sehen. Ganz schnell schloss sie die Augen. Nein, Sterne wollte sie nicht sehen. Wollte nicht erinnert werden an jene Nächte an der Schattenwand, wo sie vor über einem Jahr um ihr Leben gekämpft hatte. Nur nicht daran denken. Nur schlafen. Alles wegschlafen.
Es war Pablos Idee gewesen: Jetzt, zur Weihnachtszeit, irgendwohin zu fahren, wo man klettern konnte. Ganz entspannt, ohne Winterklamotten, ohne Thermozeug und ohne dicke Fäustlinge. Ohne Eisausrüstung und ohne Erfrierungserscheinungen.
Es hätte auf dem Weg nach Süden gleich mehrere Klettergebiete gegeben, die in Frage gekommen wären. Finale Ligure zum Beispiel oder die Felsgebiete bei Nizza. Oder auch in der Provence: Beaux, die Verdonschlucht, Les Alpilles. Kumpels aus der Kletterhalle hatten Pablo zur Verdon geraten, da wäre die Kletterei viel schöner als sonst wo in Europa. Doch er hatte sich nicht abbringen lassen von seiner Idee, in den fjordartigen Calanques zwischen Marseille und Cassis genussvoll über dem Meer zu klettern. Das, da war er sich gewiss, wäre für Marielle jetzt das Richtige. Großartige Natur, schöne, nicht allzu schwierige Kletterei und ganz besondere Stimmungen. Vielleicht würde ihr das ja helfen, über ihr Trauma hinwegzukommen. Wieder Freude zu finden am Klettern und vielleicht auch an den Bergen. Vielleicht, vielleicht, vielleicht …
Sie fuhren an der Küstenstraße entlang, um sich die Autobahngebühren zu sparen. Das bedeutete zwar, dass sie viel langsamer vorankamen. Aber sie hatten ja Zeit – und außerdem war es wunderschön.
Der Himmel war leuchtend blau, wolkenlos. Das Meer war blau mit einem bleiernen Schimmer, und weit draußen tanzte die Gischt auf den Wellen. Die Sonne kam so warm durch die Scheibe, dass sie die Heizung ganz herunterschalten mussten. Und es gab Palmen! In Vallauris hielten sie vor einem Straßencafé und gönnten sich ihren ersten original französischen Café au Lait und die besten Croissants, die sie je bekommen hatten. Und wenn auch die Leute winterlich gekleidet waren – in Pelzjacken die Damen, in dicke Mäntel die Herren –, so herrschte doch für Marielle und Pablo Frühling, geradezu hemdsärmeliger Frühling. Und jetzt war sie froh, dass sie sich zu dieser Reise hatte überreden lassen. Die Sonnenstrahlen wärmten ihre Wangen, ihre Nase, die Ohren, den Hals und auch ihre Hände. Und sie glaubte und hoffte, so den Winter vergessen zu können.
Ihr Quartier war eine Jugendherberge inmitten grandios karger Landschaft. Die Calanques waren ein gefährdetes Waldbrandgebiet – es gab nichts als Steine, Rosmarin, Steine, wieder Rosmarin und dazu, zwischen Steinen und Rosmarin, ein paar Pinien, die beim letzten Brand davongekommen waren. Und doch ging von dieser Mischung aus Kargheit und Größe ein Zauber aus, etwas Beruhigendes, ja Meditatives.
In der Jugendherberge »La Fontasse« waren Männer und Frauen in getrennten Schlafräumen untergebracht, was die Freude bei Marielle und Pablo ziemlich stark einschränkte. Aber auf die einsamen Nächte folgten Morgen auf der Terrasse: Frühstück im Freien, im Sonnenschein und mit Blick aufs Meer, das sich etwa hundert Meter tiefer bis zum fernen Horizont erstreckte. Und auf diese Morgen vor dem Haus folgten Tage besonderer Erlebnisse: Wanderungen zu den nahen Buchten, verbummelte Stunden im kleinen Hafen von Cassis, eine Durchquerung der gesamten Calanques von »La
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