Kalter Fels
Hilfe brauchte. Doch es gelang ihm nicht. Zumindest er hörte nicht den geringsten Ton von sich selbst.
Aber er hörte etwas anderes: Stein. Es hörte sich an, als würde der Mensch neben ihm einen Steinbrocken vom Boden heben. Stein schabte über Stein. Und es war ihm, als wäre ein Atmen nahe bei ihm.
Wieder versuchte er, etwas zu sagen. Aber es quoll nur irgendetwas Feuchtes, Schleimiges aus seinem Mund.
»Nuhmmh … norrch …«
Dann kam ein Augenblick großer Klarheit: Die Apathie wich für den winzigen Moment. Er sah das Blau des Himmels noch einmal aufblitzen. Zugleich spürte er seine Unfähigkeit zu sprechen, er schmeckte das Blut in seinem Mund – und er wurde gewahr, dass er sterben würde, in dieser Minute oder in einer halben Stunde.
Erstaunlich war für ihn nur, dass ihn diese Gewissheit weder in Angst noch in Traurigkeit versetzte. Dass er nichts empfand, als er an seinen Tod dachte.
Dann sah er wieder diesen Schatten. Nur eine Bewegung, etwas, das durch seinen brechenden Blick wischte. Ob das der Tod war?
Es war der Tod!
Ein weiterer ungeheurer Schlag traf ihn am Kopf. Er hörte das Knacken seines Wangenknochens, das Bersten seines Kiefers, und es war ihm, als würde ihm das ganze Gesicht weggerissen.
Er schrie. Schrie, schrie, schrie.
Und jetzt hörte er sich! Er konnte sich hören!
Dann verlor er den letzten Rest Bewusstsein, den er noch in sich gehabt hatte. Es war eine Erlösung. Er hatte das Leben losgelassen, hatte das Tor in eine andere Welt durchschritten. Die andere Welt war schwarz wie eine sternlose Nacht. Und sie war ein Trugbild.
Die andere Welt nahm ihn nicht auf. Noch nicht. Sie ließ ihn kurz hineinschauen – und dann spuckte sie ihn wieder aus. Seine letzte Stunde hatte eben erst begonnen …
Er wurde an den Beinen über den harten, rauen, grausamen Felsboden gezogen, über Schotter und Kies. Er war nicht in der Lage, sich dagegenzustemmen. Nicht einmal die Finger gehorchten ihm noch. Brutal wurde er vom Weg geschleift, wie von einem großen, wilden Tier. Wie von einem Alaskabären oder einem ausgewachsenen Löwen. Und dann …
Plötzlich war alles nur noch Bewegung. Schmerz und Bewegung. Rasender Schmerz und rasende Bewegung.
Nach der Rückkehr aus der anderen nachtschwarzen Welt war noch einmal Gefühl in ihm: Schmerz!
Mannhardt stürzte. Nicht im freien Fall, sondern eine steile Flanke hinunter. Über Geröll und Schrofen, sich wieder und wieder überschlagend. Er schlug auf, wurde hochgewirbelt, schlug wieder auf.
Es war, als wäre er inmitten eines reißenden Flusses in einen mörderischen Strudel geraten. Er fühlte sich hinuntergezerrt, hinuntergezogen, fühlte alle Gliedmaßen verdreht. Sein Kopf war schon gebrochen. Nun brachen die Schultern, die Oberschenkel, die Kniescheiben und auch das Rückgrat.
Als er zum Liegen kam, nicht mehr fortgerissen wurde, da hätte er eigentlich tot sein müssen. Aber er war wieder nur einen Schritt über die Schwelle gegangen. Seine letzte Stunde war noch nicht vorüber. Noch lange nicht! Er hatte noch fast vierzig Minuten vor sich. Die längsten Minuten seines Lebens. Aber es war ja schon kein Leben mehr. Doch er war auch noch nicht tot. Der Tod spielte noch mit ihm wie eine Katze mit einer halb zerbissenen, noch zuckenden Maus.
Die Bergrettungsleute, die ihn später bergen mussten, berichteten, dass sie schon viele schlimm zugerichtete Unfallopfer gesehen hätten. Dass aber selten einer so furchtbar ausgesehen habe wie dieser Karl Mannhardt.
Er lag. Der Sturz war vorüber. Er sah nichts. Sah auch keine Schatten mehr. Alles war verschwunden: Schatten, Schmerzen, sein Körper. Er schien nicht mehr da zu sein, schien sich aufgelöst zu haben. Nein, nicht aufgelöst … anders … es war anders … es war, als wäre sein Körper ein Stück Fleisch in einer fast durchsichtigen Sülze, ausgeschlossen von der Welt – und zugleich fürsorglich umhüllt, ummantelt, nicht mehr erreichbar.
Doch das Herz, das schlug. Inmitten der Gelatinemasse schlug sein Herz. Es schlug laut. Nicht dass er das hätte hören können, aber er spürte es. Die Schallwellen versetzten die Sülze in Schwingung, und inmitten dieser Schwingung lag er, ein Brocken Fleisch.
Und das Herz schlug.
Ungleichmäßig schlug es. Wie aus dem Rhythmus geraten. Ja, so schlug es: aus dem Rhythmus. Vor Minuten oder vor einer Viertelstunde oder einer halben Stunde, da hatte es im Rhythmus geschlagen, seinem Rhythmus. Alles hatte zueinandergepasst: die
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