Kalter Fels
»würde dieser Mann vielleicht immer noch frei rumlaufen. Und vielleicht würde er dann wieder jemanden töten.«
Sie sahen ihn alle an: Hosp, Schwarzenbacher, Dr. Reuss.
Der Anwalt brach das kurze Schweigen.
»Du hast natürlich recht, sagte er. »Marielle war zum zweiten Mal in ungeheurer Gefahr. Aber sie war es auch, die nun schon zum zweiten Mal für die Aufklärung gesorgt hat. Trotzdem …« Er nickte Hosp zu. »Trotzdem schließe ich mich seiner Argumentation ein Stück weit an. Mir graut vor dem Gedanken, dass sich Marielle noch einmal in Lebensgefahr bringt. Ich habe euch junge Leute dazugeholt. Ich sehe mich schon auch in der Verantwortung. Und deshalb glaube ich, dass es das Beste wäre, Marielle nicht mehr in unsere Obsession …« – jetzt lächelte er Schwarzenbacher an – »… unsere Obsession für alpine Unfälle einzubeziehen.«
Pablo schüttelte ununterbrochen den Kopf. Er war überhaupt nicht einverstanden mit der Wendung, die das Gespräch zu nehmen begann. Und er wäre jetzt viel lieber bei Marielle gewesen als in dieser seltsamen Männerrunde.
»Ich will nicht, dass wir über Marielle reden, ohne dass sie dabei ist«, presste er ärgerlich zwischen den Zähnen hindurch. »Ich will das einfach nicht. Das ist nicht fair. Überhaupt nicht fair.«
Er nahm die Serviette vom Schoß, knüllte sie zusammen und legte sie neben seinen bis auf die Soßenreste leeren Teller. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. Er war sauer. Stinksauer. Und vielleicht hätte er es ja auch getan: wäre aufgestanden und davon.
Doch dann geschah etwas ganz und gar Unerwartetes. Eine Frau kam an den Tisch, sehr groß, sehr schlank, mit zielsicheren Schritten.
Das Gespräch verstummte, alle sahen ihr entgegen. Sie trat an Schwarzenbacher heran, der in seinem Rollstuhl an der Stirnseite des Tisches saß, beugte sich zu ihm hinunter, legte den Arm um seine Schultern, küsste ihn auf die Wange und sagte: »Servus, Paulchen.«
Pablo war irritiert. Das war ein Bild, das er bislang nicht mit Schwarzenbacher in Zusammenhang gebracht hatte.
Schwarzenbacher sagte zu der Frau: »Du entschuldigst, dass ich sitzen bleibe.« Und er setzte ein breites Grinsen dazu auf.
Zu Reuss, Hosp und Pablo sagte er: »Ich möchte euch Ellen vorstellen. Wir haben uns vor Kurzem kennengelernt.«
Er sah fragende Augen. »Vor ein paar Tagen erst«, sagte er. »Wenn es euch nichts ausmacht …«
Natürlich machte es niemandem etwas aus, dass sich diese Ellen, die sonst keiner kannte, dazugesellte. Und dass die beiden erzählten, wo sie sich begegnet waren.
Pablo tat sich weiterhin schwer, die beiden in seiner Vorstellung zusammenzubringen: der behinderte Schwarzenbacher, bärbeißig, oft zynisch, nicht übermäßig attraktiv, und diese Frau, die nicht mehr jung war, wahrscheinlich schon in den hohen Vierzigern, aber irgendwie gar nicht alt, nicht altmodisch. Er glaubte sogar, dass sie attraktiv war. Aber darin war er sich nicht ganz sicher. Als gut Zwanzigjähriger hatte er sich eigentlich noch nie Gedanken über die Attraktivität von Frauen gemacht, die um mindestens zwei Jahrzehnte älter waren als er.
* * *
Marielle überquerte vor dem Bahnhof den Südtiroler Platz, nahm die Passage zum Raiffeisenplatz, bog in die Adamstraße und dann in die Salurner Straße ein. Sie sah hinüber zum Casino und verspürte einen Moment lang unbändige Lust, an den Slot Machines ein paar Euro zu riskieren. Sie ließ es sein, bog in die Wilhelm-Greil-Straße ein, blieb vor den Auslagen des Sportgeschäfts Gramshammer stehen und besah sich die Bergsteigerbekleidung – Anoraks, Berghosen – an den Schaufensterpuppen. Ein paar Meter weiter stand sie lange vor »Freytag & Berndt«. Das Fenster der Fachbuchhandlung war voll mit Reise- und Alpinführern, mit Fachbüchern und mit Bergsteigerschilderungen. Sie spielte das stille Spiel, wie sie es bisweilen tat, wenn sie allein vor einem Schaufenster stand. Sie fragte sich, welchen Artikel sie sich aussuchen würde, wenn sie einen einzigen von den vielen gezeigten geschenkt bekäme. Ein Reisehandbuch über Marokko? Wäre eine Möglichkeit. Da möchte ich einmal hin, dachte sie. Ins Atlasgebirge, in die Wüste und in die Medina von Marrakesch.
Eigentlich fand sie alles ziemlich interessant, bis auf zwei Bücher von Messner und Ratgeber beziehungsweise Tourenbeschreibungen für den Jakobsweg.
Ich würde die Biographie von Ines Papert nehmen, dachte sie. Diese Ausnahme-Bergsteigerin
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