Kalter Zwilling
wenn der Mörder es auch noch auf seine »echte« Mutter abgesehen hatte? Krampfhaft überlegte er. Von Kevin Helmhold, der seit seiner Festnahme in Untersuchungshaft saß, ging zurzeit keine Gefahr aus. Doch was, wenn Kevins älterer Bruder der wahre Täter war?
»Wann hat Anna ihre Mutter zuletzt gesehen?«
Emily stockte. »Das weiß ich nicht. Was ist denn los?«
»Emily, bitte hilf mir und gib mir Anna für einen Moment.«
Annas Antwort ließ das Blut in Olivers Adern gefrieren. Seit zwei Tagen hatte sie nicht mit ihrer Mutter gesprochen.
...
Adrian Helmhold betrachtete die Frau, die seine leibliche Mutter war. Sie lag mit dem Rücken an Armen und Beinen gefesselt auf dem Bett, ihr Gesicht zu einer vor Angst erstarrten Maske verzerrt. Trotzdem konnte er sich in ihren grünen Augen und den brünetten Locken wiedererkennen. Ihre blasse Haut glich der seinen bis aufs Haar.
Sie hatte sich bis zur Erschöpfung gegen die Fesseln gewehrt. Hatte auch dann nicht aufgehört zu zappeln, als der Knebel ihr die Luft zum Atmen abschnürte. Adrian beeindruckte dieser Kampfgeist. Dort vor ihm lag seine »echte« Mutter. Das konnte er an ihrem Äußeren und ihrem Verhalten zweifelsfrei erkennen. Er war von ihrem Blut.
»Wenn du mir versprichst, nicht zu schreien, nehme ich dir den Knebel aus dem Mund.« Verwundert stellte Adrian fest, dass seine Stimme fast zärtlich klang.
Bettina nickte heftig und er zog ihr mit einem Ruck den Knebel aus dem Rachen. Sie hustete erstickt und Adrian flößte ihr Wasser in den ausgetrockneten Mund.
»Warum wolltest du mich vernichten?« Die Frage platzte aus ihm heraus, obwohl er sie nicht geplant hatte.
Bettina Winterfeld blickte ihn verwirrt an. Sie fragte sich, wie er es geschafft hatte, aus der roten Etage auszubrechen. Als sie bemerkte, wie seine Miene sich ärgerlich verzog, reagierte sie hastig. »Ich will Sie nicht vernichten. Wie kommen Sie darauf?«
Adrian lachte laut auf und schüttelte den Kopf. »Du weißt nicht, wer ich bin, oder?«
Bettina schwieg und wagte nicht, sich zu bewegen. Eine schier endlose Stille trat ein. Adrians Hand war zu ihrer Kehle gewandert und wollte zudrücken, doch ein innerer Widerstand hielt ihn davon ab. Stattdessen sagte er: »Mutter!«
Bettina riss die Augen auf. Sofort war sie wieder in ihrem Albtraum gefangen und plötzlich sah sie die Ähnlichkeit zwischen ihrer Tochter Anna und Adrian Helmhold.
»Wie kann das sein?« Ihre Stimme zitterte.
»Glaubst du, du kannst einen Jahrhunderte alten Fluch einfach aufheben, indem du deine Kinder tötest, noch bevor sie geboren werden?«
In Bettinas Kopf brach das Chaos aus. Das konnte nicht sein. Sie hatte nur ein einziges Kind auf die Welt gebracht. Die Vergangenheit spulte sich vor ihrem geistigen Auge ab. Sie sah das ernste Gesicht ihrer eigenen Mutter vor sich, als diese ihr von dem Fluch einer alten Hexe aus dem fünfzehnten Jahrhundert erzählt hatte. Sie schmeckte die Bitterkeit, die sie erfüllte, als ihr klar wurde, dass ihre Mutter nicht scherzte. Bettinas Augen füllten sich mit Tränen, die heiß über ihre Wangen liefen, während ihre Gedanken in die Vergangenheit flogen, zurück zu jenem Tag, an dem sie Professor Neuhaus gebeten hatte, alle überflüssigen Embryos zu vernichten. Sie blickte Adrian Helmhold an und flüsterte atemlos: »Ich habe es nicht gewusst. Ich habe alles dafür getan, keine Zwillinge zu gebären.«
Die Tränen liefen jetzt in Strömen über ihre Wangen. Bettina Winterfeld schluchzte laut. »Wenn ich gewusst hätte, dass…« Sie stockte mitten im Satz. »Woher weißt du das alles?«
Adrian Helmholds Gesicht wirkte wie versteinert. »Ich habe ein Gespräch zwischen meiner sogenannten Mutter und ihrem Freund, Hans-Peter Mundscheit, belauscht. An die Patientenakten heranzukommen, war nicht besonders schwierig. Ich musste einfach nur dafür sorgen, ein paar Wochen ins Krankenhaus eingeliefert zu werden.«
Mit einem süffisanten Grinsen fügte er hinzu: »Es gibt dort wirklich sehr nette Schwestern.«
»Woher wusstest du von dem Fluch?«
Adrian Helmhold zückte ein glänzendes Skalpell und setzte sich rittlings auf Bettinas Bauch. »Du willst ganz schön viel wissen, bevor du stirbst!« Er schnitt in einer langen feinen Linie in ihren Hals. Bettina schrie entsetzt auf. Er erstickte ihren Schrei mit seiner Hand und flüsterte: »Als ich noch ein kleiner Junge war, bevor die Schlampe, die sich als meine Mutter ausgab, mich in die rote Etage einweisen
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