Kalter Zwilling
verlieh ihr fast übermenschliche Kräfte. Während sie den Kopf von einer Seite zur anderen drehte, um ihren Mund von dieser stinkenden Gummihand zu befreien, beobachteten ihre Augen, dass der Mann ruhig neben ihrem Bett kniete.
Plötzlich bewegte er sich und warf sich mit einem Ruck auf sie. Die Hand verschwand für einen Moment von ihrem Mund und Bettina schrie um ihr Leben.
»Hilfe!«
Dann spürte sie, wie ein Knebel tief in ihren Rachen gepresst wurde. Sie schluckte und rang nach Luft. Vor ihren Augen tanzten grelle Blitze. Speichel lief durch ihren Hals in die Lunge. Bettina hustete und keuchte erstickt. Glasklar nahm ein Gedanke in ihrem Kopf Gestalt an. Ich werde sterben!
...
Anna lachte herzhaft, während Emily sich bemühte, den Kaffee im Mund zu behalten. Sie rasten mit Annas Wagen über die Landstraße B9. In knapp zehn Minuten hatten sie eine Verabredung mit Professor Morgenstern. Im Moment witzelten die beiden über die Narbe in seinem Gesicht. Anna hatte Emily von der nächtlichen Begegnung zwischen dem fast nackten Morgenstern und ihrer Mutter erzählt. Zunächst hatte sie sich Sorgen gemacht, doch Emily wischte diese mit Leichtigkeit beiseite. Sicherlich hatte sie recht. Annas Mutter war schon immer eine besorgte und ängstliche Person gewesen, die im Leben eher die Gefahr als die positiven Möglichkeiten wahrnahm.
Beide lachten bei der Vorstellung, Professor Morgenstern mit nacktem Oberkörper zu begegnen. Sie amüsierten sich über die Reaktion von Annas Mutter, die aufgrund ihrer strengen Erziehung eher prüde war. Anna konnte sich bildlich vorstellen, wie ihre Mutter mit entsetztem Gesicht davongelaufen war.
Sie grinste. Trotzdem kam ein leichter Zweifel in ihr hoch. »Aber sie hat gesagt, dass er geblutet hat.«
»Ach was, Anna. Meine Mutter würde genauso reagieren. Sie ist ja auch sofort rausgelaufen und hat nicht mal mit ihm gesprochen. Wer weiß, mit wem er in seinem Büro verabredet war.«
Anna musste lachen. »Wahrscheinlich hast du recht. Nur gut, dass sie ihn nicht zusammen mit einer Krankenschwester erwischt hat, sonst wäre die Sache noch peinlicher geworden.«
Anna bremste abrupt und bog in den kleinen Waldweg ein, der direkt zur psychiatrischen Klinik führte. Sie erwischte einen falschen Gang und der Motor heulte laut auf.
»Oh nein, jetzt ist mir der Kaffee doch noch übergeschwappt.« Emily stellte den Thermobecher zurück in die Halterung und kramte ein Papiertaschentuch hervor.
»Wenigstens sind die Flecken nicht zu sehen.« Sie tupfte sich vorsichtig die Kaffeespuren von der Jeans.
»Ich gebe zu, dass Morgenstern ein merkwürdiger Kauz ist. Er grinst immer so komisch. Beim letzten Besuch hatte ich eine Gänsehaut. Andererseits ist er den ganzen Tag von Irren umgeben, da wäre es ja verwunderlich, wenn nicht etwas davon auf ihn abfärben würde.«
Anna nickte, während sie auf den Klinikparkplatz einbog und den ersten freien Parkplatz nahm. Um diese Uhrzeit wirkte die Klinik noch verschlafen. Bis auf die Schwester in der Anmeldung war der Flur im Erdgeschoss vollkommen leer.
Die weißen Wände und der graue Laminatboden strahlten trotz des herrlichen Herbstwetters eine eisige Atmosphäre aus. Emily marschierte schnurstracks auf die Anmeldung zu. »Zu Professor Morgenstern bitte, ich habe einen Termin mit ihm.«
Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Professor Morgenstern ist noch gar nicht hier.« Sie blickte auf ihre Armbanduhr. »Oh, Sie haben recht. Eigentlich sollte er schon seit knapp einer Stunde im Büro sein. Ich versuche, ihn auf dem Handy zu erreichen. Einen Moment, bitte.«
Sie griff zum Telefonhörer und legte nach ein paar Sekunden wieder auf. »Tut mir leid. Es geht leider nur die Mailbox ran. Warten Sie doch einfach ein wenig. Ich denke, dass er jeden Moment hier eintreffen wird.«
Emily verzog enttäuscht die Miene. »Einverstanden, dann warten wir dort vorne im Flur auf ihn.«
...
Oliver wusste, dass etwas nicht stimmte. Er las die Patientenakte von Kevin Helmholds Mutter jetzt zum dritten Mal. Er überflog die Liste der Medikamente und die Laborberichte, die Auskunft über den jeweiligen weiblichen Zyklus gaben. Oliver griff zu einer weiteren Akte und legte sie direkt daneben. Frau Helmhold hatte viel weniger Medikamente bekommen als die andere Patientin.
Verdutzt hielt er inne und verglich Zeile für Zeile. Es fehlten nicht nur Medikamente, offensichtlich war bei Frau Helmhold auch keine Punktion
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