Kaltes Fleisch. Ein Mira-Valensky-Krimi
»Vielleicht hat sie sich das auch alles bloß zusammengereimt. Wer versucht schon jemanden wegen ein bisschen Gewerkschaftsarbeit umzubringen?«
»Hängt davon ab, Mira Valensky. In Bosnien, als wir noch Jugoslawien waren, du hast bei der richtigen Gewerkschaft sein müssen. Alles andere war nicht erlaubt.«
»Aber umgebracht wurde auch niemand deswegen.«
»Gefängnis reicht.«
»Wir sind in Österreich.«
»Hat sie was gesehen oder gehört, bevor die Kartons gefallen sind?«
»Sie sagt nein.«
Vesna stand auf, füllte einen Eimer mit Wasser und sah auf die Uhr. »Du musst heute nicht in die Redaktion?«
Ich gähnte träge. »Doch, muss ich.«
»So ein gutes Leben wie Journalistin hat eben nicht jede. Ich nicht und die im Supermarkt nicht. Mach dir keine Gedanken, mein Leben ist auch nicht schlecht. Man muss eben selbst schauen, dass es passt.«
Ich hatte mir im Sitzungszimmer bloß einige Zeitungen holen wollen, aber als ich bemerkte, dass die Redaktionssitzung noch in vollem Gang war, blieb ich in der Tür stehen. Unser Chefredakteur legte Wert darauf, dass so viele Leute wie möglich an diesen Konferenzen teilnahmen. Die Verpflichtung dazu bestand aber nur für die Ressortchefs. Der Chefredakteur lieferte gerade wieder eine seiner Selbstdarstellungsshows und bemerkte mein verspätetes Eintreffen gar nicht. »Politik«, sagte er, »ist wichtig. Schon richtig. Aber alles ist Politik. Politik sind die Spielregeln für gesellschaftliches Zusammenleben. Sagen Sie mir also nicht, dass das Ranking der hundert besten Schönheitschirurgen nicht Politik ist. So etwas bestimmt das gesellschaftliche Zusammenleben ganz wesentlich, oder?«
Ich sah, wie Droch spöttisch die Lippen verzog und den Kopf schüttelte. Droch war Leiter des Politikressorts, einer der bekanntesten Kommentatoren des Landes. Mit ihm würde sich der Chefredakteur nie direkt anlegen. Allerdings hielt es Droch für unter seiner Würde, auch nur ein Wort über Politikverständnis und Zeitungsphilosophie des Chefredakteurs zu verlieren. So taten sie beide, was sie wollten. Unsereins konnte dann ausbaden, was dem Chefredakteur gerade einfiel. Droch nickte mir zu. Seit einem heldensagenumrankten Kriegsberichterstattereinsatz in Vietnam saß er im Rollstuhl. Ob er schon vor dem Unfall, dessen wahren Hergang ich als eine von ganz wenigen kannte, den meisten Menschen gegenüber so distanziert gewesen war? Ich jedenfalls hatte das Privileg, von ihm gemocht zu werden. Vor einiger Zeit hatte es beinahe ausgesehen, als könnte daraus noch mehr werden. Ich musterte Droch. Seine kurz geschnittenen grauen Haare waren widerborstig wie sein Charakter, kühle blaue Augen, ein Gesicht, das mit den Jahren nicht schwammig wurde, sondern an Konturen gewann.
Der Chefredakteur hatte sich endgültig in einen Wirbel über die Zusammenhänge von Schönheitschirurgie und Politik geredet. Er sah Droch an, bemerkte unseren Blickwechsel und fand einen Weg, sich aus der Sackgasse zu befreien: »Unsere Mira Valensky, nächtlich im Einsatz, um uns über die Welt der Reichen, Schönen und Berühmten zu berichten. Welcher Star hat Sie denn gestern so lange mit Beschlag belegt, dass Sie erst jetzt aus dem Bett gefunden haben?«
Ich weiß, er wollte nur das Thema wechseln, trotzdem ärgerte ich mich über seinen Ton. Okay, ich arbeitete im Ressort Lifestyle, das hieß aber noch lange nicht, dass ich eine jener Tussis war, die nur von Premierenfeiern, Business-Cocktails und mühsam kreierten Events für alternde Salonlöwen berichtete. Zumindest nicht immer. Wohl um mir selbst etwas zu beweisen, erwiderte ich: »Ich recherchiere gerade eine Story über Arbeitsbedingungen in Supermärkten. Lifestyle einmal von der anderen Seite.«
Der Chefredakteur sah mich an und lachte. »Ein Scherz, das war ein Scherz, ihr könnt mitlachen.«
Meine Kolleginnen und Kollegen hatten unser Wortgeplänkel zum Großteil dafür genutzt, um miteinander zu tratschen oder sich geistig auszuklinken. Die Sitzung dauerte schon mehr als lange. Die erwünschte Reaktion blieb aus, und der Chefredakteur war bemüht, wieder ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. »Eine Story über Verkäuferinnen. Das wird die Leser von den Hockern werfen. Das, was sie täglich sehen, können sie jetzt auch noch lesen. Ich fürchte fast, da müssen wir unseren Aufmacher mit den Schönheitschirurgen noch einmal schmeißen.«
»Mehr Politik ist das allemal.«
»Aber wer sagt, dass die Leute etwas über Politik lesen
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