Kaltes Herz
die Straßen trostlos gefunden, nur wenige Menschen waren unterwegs, die Hüte tief in die Stirn gezogen, die Überröcke bis zum letzten Knopf geschlossen, die Kragen gegen den unaufhörlichen Regen hochgestellt. Charlie kannte die Innenstadt mittlerweile so gut, als wäre er hier aufgewachsen, und als er die Weite des Alexanderplatzes von Süden her überquerte, grüßte ihn eines der Blumenmädchen, die immer hier standen. Kannten sie ihn schon, war er hier so oft ziellos herumgewandert? Charlie erwiderte den herausfordernden Blick des Mädchens. Hübsch war sie ja. Vielleicht sollte er sich ihr bekannt machen, man könnte ein bisschen plaudern und dann sehen, wie es weiterging. Charlie lächelte, wissend, welch überzeugende Wirkung das auf die Mädchen hatte. Doch dann erinnerte er sich, dass er ihr nichts zu bieten hatte. Überhaupt nichts. Nicht einmal ein Bett.
Charlie wandte den Blick ab, schritt schneller aus, um ihn herum viel zu viel Raum, den er zu durchqueren hatte. Er wollte den offenen Platz hinter sich lassen, sich den prüfenden Blicken der Mädchen entziehen. Unvermittelt wurde das unentschlossene Tröpfeln der letzten Stunden zu richtigem Regen, binnen Sekunden war der Platz leergefegt, die Blumenmädchen schienen sich in den Dunstschwaden aufgelöst zu haben, und Charlie fühlte sich, als sei er der letzte Mensch auf Erden. Er zog die Schultern hoch, vergrub die Hände in den Taschen, lief mit langen Schritten, bis er eine Kastanie fand, unter deren Blätterdach er ausharren konnte.
Sollte er aufgeben? Nach London zurückkehren? Sich stellen?
Charlie schüttelte unwillkürlich den Kopf. Solche Gedanken würde er nicht hegen, wenn er Geld für eine warme Mahlzeit hätte, für irgendetwas, das die Kälte vertrieb. Einen Regenmantel. Ein Zimmer.
In den letzten Wochen war er auf der Suche nach Arbeit von einem Theater zum nächsten gelaufen. Brauchen Sie einen Violinisten? Ich komponiere auch. Nein, mein Instrument habe ich leider nicht bei mir. Aber … und einen Schauspieler, brauchen Sie vielleicht einen Schauspieler? Ich könnte … nein, mein Akzent ist echt. Ich komme aus London. Man kennt mich dort gut. Ja … verstehe … natürlich … auf Wiedersehen.
Er hatte alle Bühnen abgeklappert, erst die großen, dann die kleinen, dann die Schmierentheater. Er lief und lief, immer weitere Kreise um das
Apollo
, den
Wintergarten
, das
Metropol
, die
Deutsche Oper
ziehend. Dann wieder von vorne,
Apollo, Wintergarten …,
die Linden und die Friedrichstraße und die umliegenden Viertel kreuz und quer, rauf und wieder runter. Vielleicht hatte er etwas übersehen, vielleicht fiel irgendwo ein Schauspieler aus, und man suchte Ersatz. Bisher hatte ihm einfach nur das Fünkchen Glück gefehlt, das man nun einmal brauchte. Mehr nicht. Er würde sich nicht unterkriegen lassen. Charlie stemmte die Hände gegen den Stamm der Kastanie und unterdrückte ein Fluchen. Er war immer noch Charles Peter Jackson. Er würde es schaffen. Direkt vor ihm war ein Aushang, er las ihn einmal, ohne den Inhalt aufzunehmen, dann noch einmal.
Brauereifest am Friedrichshain. Elektrische Cabinets, Riesenkinder, Panoramas, Flohtheater, Schießbuden, Riesenrad. Freibier.
Das letzte Wort fand schließlich Eingang in Charlies Verstand. Statt sinnlos herumzulaufen, könnte er zu dem Fest gehen. Wenn er Glück hatte, gab es dort etwas für ihn zu tun. Er verlangte ja schon gar keine Anstellung als Musiker mehr, es musste auch keine Bühnenrolle sein. Inzwischen würde er sich auch damit zufriedengeben, die Bühne einfach nur zu schrubben.
Am Eingang des Rummels erhielt Charlie von einem kleinen Affen in roter Paradejacke mit schimmernden Epauletten und Messingknöpfen ein Billett, auf dem die Worte
Einzutauschen für ein kleines Bier
aufgedruckt waren. Versuchsweise griff er nach dem Kästchen, in dem der Affe die Billetts aufbewahrte, doch der fauchte und schlug nach Charlies Fingern. Als Charlie lächelte und den Hut zog, tat der Affe dasselbe, er schien sogar Charlies ironischen Ausdruck zu imitieren. Das Tier war gut abgerichtet.
Das Gelände wirkte verwaist, für einen Rummel liefen viel zu wenig Menschen herum, und die schienen sich nicht so sehr für die Attraktionen in den Buden und Wagen zu interessieren als vielmehr für den Schutz, den die rot-weiß gestreiften Markisen vor dem Regen boten. Ein kleiner Junge lief herum, er hatte sich einen schwarzen Schirm zwischen Hals und Schulter geklemmt und verteilte Handzettel.
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