Kaltes Herz
warten Sie!», rief eine sanfte Stimme hinter ihm.
Charlie drehte sich um.
So völlig ungeschminkt hätte er Henriette Keller beinahe nicht erkannt, das Gesicht frisch glänzend und rotwangig und die Augen so dunkel, dass Charlie nicht zu sagen wusste, wo die Grenze zwischen Pupille und Iris lag. Als sie lächelte, erschienen Grübchen auf ihren Wangen.
«Würden Sie das einen Moment halten?», bat sie und reichte ihm einen kleinen Spiegel.
Ihre Sprechstimme unterschied sich von ihrer glasklaren Singstimme, es lag etwas Gehauchtes, beinahe Raues darin. Charlie hielt den Spiegel, und Henriette Keller zupfte ein paar dunkle Locken unter ihrem Hut zurecht und prüfte ihr Gesicht. Ihre Lippen waren voll und eine Winzigkeit asymmetrisch.
«In den Garderoben ist es so voll, dass man nicht immer einen Platz vor dem Spiegel bekommt», erklärte sie mit einem Lächeln und nahm den Handspiegel zurück.
Charlie war sich seines ärmlichen Aufzugs so bewusst wie nie zuvor, doch sie sprach mit ihm wie mit Ihresgleichen.
Mein Lächeln ist umwerfend, dachte Charlie, meine Augen können blaue Blitze verschießen wie einer von Teslas Oszillatoren, mein Haar glänzt wie Schellack … Doch es nützte nichts, er atmete den Duft von Seife und Rosen, den Henriette Keller verströmte, und blieb befangen und stumm. Was hätte er schon sagen können, angesichts solcher Vollkommenheit?
«Herzlichen Dank», sagte sie, steckte den Spiegel ein. Und ging.
Charlie blickte ihr nach, innerlich erschüttert, ohne zu wissen, was es eigentlich war, das ihn erschütterte. Das war ein Mädchen, hübsch, ja. Aber hübsche Mädchen gab es viele, oder? Dann besann er sich. Die Vorstellung war vorbei, Henriette Keller war auf dem Weg nach draußen. Er musste ihr nur folgen, wenn er den Ausgang finden wollte.
Es hatte aufgehört zu regnen. Fräulein Keller ging zügig und mit gesenktem Haupt einige Meter vor Charlie die Friedrichstraße hinunter. An der Ecke Unter den Linden blieb sie stehen, blickte sich suchend um, vielleicht um eine Kutsche anzuhalten oder nach ihrem Begleiter Ausschau zu halten. Charlie hatte es nicht vorgehabt, aber er war ihr gefolgt, blieb nun ebenfalls stehen, hielt sich im Schatten.
Er war nicht der Einzige, der sich auf diese Weise fragwürdig verhielt: Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann, den flachen Hut in den Nacken geschoben. Es war der feine Herr, der neben Charlie in der Loge gesessen hatte, er erkannte ihn an dem Opernglas, das er nun erneut vor die Augen hob, um Henriette Keller näher heranzuholen. Etwas an seinem Gesicht ließ Charlie stutzen. Als der Mann das Glas sinken ließ, wusste er, was es war: Der Mann hatte fremdländische, schmalgeschnittene Augen. Vielleicht ein Chinese.
Er bemerkte Charlie nicht, sein Blick ruhte noch immer auf Henriette Keller, die allein in dem nächtlichen Treiben auf der Friedrichstraße stand und sich suchend umschaute. Es war unvermeidlich, dass auch sie den Mann entdeckte. Sie zuckte sichtlich zusammen, wandte sich hastig ab. Ihre Bewegungen bekamen etwas Fahriges, ihr Blick etwas Getriebenes. Dann erkannte sie Charlie, ein Lächeln erhellte ihr Gesicht, sie winkte ihn heran.
«Ich habe schon auf Sie gewartet, wo waren Sie denn nur so lange?», sagte sie, die Stimme absichtlich laut, sodass der Mann mit dem Opernglas sie möglicherweise ebenfalls hörte. Sie hakte sich umstandslos bei Charlie unter, und gemeinsam gingen sie über die Linden und weiter die Friedrichstraße hinunter.
Erst nachdem sie einen Häuserblock hinter sich gebracht hatten, blickte Fräulein Keller sich prüfend um. Charlie tat es ihr gleich. Der Mann mit dem Opernglas war nicht mehr zu sehen. Fräulein Keller stieß einen Seufzer aus und rückte ein wenig von Charlie ab.
«Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie einfach so entführe», sagte sie, und wieder stieg Charlie ihr Duft in die Nase.
«Wer würde nicht gerne von Ihnen entführt werden, Fräulein Keller», gab Charlie zurück. Endlich, da war seine Sprache wieder und mit ihr sein gewohnter Charme. «Es ist mir eine Ehre, Sie zu begleiten.»
«Ich war in einer Notlage. Haben Sie diesen Herrn gesehen, auf der anderen Straßenseite?»
«Sie meinen den Chinesen?»
Fräulein Keller nickte und erschauerte.
«Ein Chinese, sagen Sie?»
«Haben Sie seine Augen nicht bemerkt?»
Fräulein Keller blickte ins Leere.
«Doch, sicher … das ist heute der neunte Abend. Immer steht er vor dem Theater und wartet auf mich und schaut. Er
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