Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)
Verhaltensmuster, auch im Verüben von Verbrechen, dann verliert der Krieg der Wehrmacht seinen besonderen Charakter, sogar in seinen schlimmsten Auswüchsen an der Ostfront.
Vereinfacht gesagt, werden die Soldaten nach der einen These zu Mördern, weil sie Nazis, nach der anderen, weil sie Soldaten sind. Solche generalisierenden Deutungsangebote fordern die Forschung zu Ergänzungen, Korrekturen und Differenzierungen heraus. So war es mit der fehlerbehafteten Wehrmachtsausstellung, und so ist es mit dem anregenden Soldaten -Buch von Neitzel/Welzer, das zwar auf ungleich höherem Niveau argumentiert, aber in seiner zuspitzenden Thesenfreudigkeit ebenfalls zum Widerspruch reizt. Es spricht für das innovative Potenzial und wissenschaftliche Selbstverständnis der von Neitzel und Welzer geleiteten Projektgruppe, dass jetzt einer ihrer Mitarbeiter die Diskussion auf eine neue Ebene hebt und dabei zu abweichenden Ergebnisse kommt.
Das Buch von Felix Römer ist alles andere als ein Aufguss des Erfolgstitels Soldaten, es ist von ganz eigener Klasse und Originalität. Der Autor, seit seiner hochgelobten Dissertation zum »Kommissarbefehl« einer der besten Kenner der Wehrmacht, liefert dem Entwurf von Neitzel/Welzer die notwendige Feinarbeit nach, ohne die übergreifenden Fragen aus den Augen zu verlieren. Dass ihm dies gelingt, nötigt umso größeren Respekt ab, wenn man den Umfang des von ihm erstmals ausgewerteten Materials bedenkt: Die über hunderttausend Seiten an US-amerikanischen Vernehmungsberichten und Abhörprotokollen umfassen etwa zwei Drittel der britischen und amerikanischen Akten, die vom Mainzer Projekt ausgewertet werden.
Man kann dieses Buch auf verschiedene Weise lesen – und wird doch stets alle Varianten verbinden, um ein Gesamtbild zu erhalten. Es ist erstens ein aufregendes Lesebuch mit neuen, hoch interessanten Selbstzeugnissen deutscher Soldaten, zweitens eine tiefgründige Mentalitätsgeschichte der Landser sowie der unteren und mittleren Offiziere bis zum Regimentskommandeur, drittens eine souveräne Zusammenfassung des Forschungsstands über die Wehrmacht. Der Leser wird mit den Bedingungen der Gefangenschaft und mit dem Abhörlager Fort Hunt in Virginia vertraut gemacht, erhält tiefe Einblicke in die politisch-ideologischen und militärischen Dispositionen, erfährt aus erster Hand vom Kitt der Kameradschaft sowie von der Verantwortung des Truppenführers und wird schließlich mit den Wahrnehmungen, Deutungen und Realien von Krieg, Kampf, Tod und Verbrechen konfrontiert. Der Autor behandelt das gesamte Spektrum der in den öffentlichen Debatten um die Wehrmacht teilweise mehr angerissenen als beantworteten Fragen. Er unterscheidet dabei genau zwischen den verschiedenen Kriegsschauplätzen, Waffengattungen, Truppenteilen und Diensträngen. Auch dadurch entgeht Felix Römer der Gefahr, den U-Boot-Kapitän im Atlantik, den Luftwaffenpiloten in Italien und den Panzergrenadier an der Ostfront in einen Topf zu werfen und alle individuellen oder kollektiven, funktionalen oder intentionalen Unterschiede mit dem alten Topos »Krieg ist Krieg« einzuebnen.
Im erwähnten Meinungsstreit, ob Intention oder Situation als Treibsätze des Handelns deutscher Soldaten im Zweiten Weltkrieg höher zu veranschlagen seien, nimmt Römer eine mittlere und zugleich vermittelnde Position ein, die zwar nicht so spektakulär ist wie manche steilen Thesen, dafür aber umso größere Plausibilität besitzt. Das Reden der Soldaten vom Krieg lässt Rückschlüsse darauf zu, dass nicht nur die universelle Logik sozialer und situativer Zwänge das Verhalten bestimmte, sondern auch die Wirkungskraft kultureller Prägungen, gesellschaftlicher Deutungsmuster und individueller Standpunkte. Dem Handeln der Soldaten waren enge Grenzen gesetzt, umso niedriger der Rang desto mehr, doch innerhalb des vorstrukturierten Rahmens gab es graduelle Spielräume. Wie man sie nutzte, entschied häufig darüber, ob man in seinem Verantwortungsbereich die Regeln des »Normalkriegs« beachtete oder die kriminellen Freibriefe des »Vernichtungskriegs« umsetzte. Die größte Leistung des meisterlichen Buchs von Felix Römer liegt vielleicht darin, dass in ihm die deutschen Soldaten als denkende und handelnde Subjekte gezeigt und analysiert werden, nicht als bloße Objekte oder gar willenlose Roboter universaler Mechanismen. Die Rückkehr des Akteurs ist verbunden mit einer höheren Gewichtung seiner Individualität und damit auch seiner
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