Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)
und Adrenalin, Mut und Wut – so oder so ging jedes Gefecht »auf die Nerven«.
Die tödliche Gewalt, die sie selbst ausübten, blieb vielen Soldaten jedoch ungeheuer. Als MG-Schütze hatte Preiß die angreifenden Rotarmisten mit massivem Feuer belegt, das gewiss nicht wenigen sowjetischen Soldaten den Tod brachte. Obwohl er selbst als »Schütze Eins« hinter dem Maschinengewehr gelegen und geschossen hatte, sprach er aber bei jeder Erwähnung nur im Plural davon, dass »wir sie mit MG beschossen« hätten. Das war durchaus typisch, denn in Fort Hunt redeten die internierten Wehrmachtssoldaten auffallend selten über dieses Thema. Zwar bereitete das Töten manchen gewaltgewohnten Frontkämpfern nach mehreren Jahren des Krieges geradezu Genugtuung und Vergnügen. Doch erst wenn sie es lange genug taten, fanden die Männer Gefallen an der Macht, Leben auszulöschen. Viele andere Soldaten beschwiegen das Töten, und dies konnte kaum an seiner Alltäglichkeit liegen. Denn sonst hätten die Männer viele andere ihrer Gesprächsthemen, die zum Teil weitaus banaler waren, in ihren Unterhaltungen in Fort Hunt genauso übergehen müssen – doch das taten sie nicht: Ständig plauderten sie von den gewöhnlichsten Dingen, ihren Maschinen, ihren Kameraden oder dem Essen. Das Verhalten der Soldaten im Kampf wurde bestimmt von der Situation, der Gruppe, aber auch von den Intentionen des Einzelnen. Wenn Befehle ergingen und das Kollektiv danach handelte, zog man wie automatisch mit: Auch Preiß widerstrebte es, die Deckung zum Sturmangriff auf die feindliche Kavallerie zu verlassen, doch nicht mit seiner Gruppe vorzugehen war keine Option. Gleichwohl: Die Soldaten waren denkende und handelnde Akteure, und in den Gefechtssituationen kam es immer wieder auf ihre persönliche Initiative an. Die Fotografie, die Erich Preiß im Moment der größten Gefahr aufnahm, um die Szenerie des Kampfes festzuhalten, ist ein Sinnbild dafür, dass sich Menschen selbst extreme Situationen individuell aneignen.
Weil sich die Soldaten an die Gewalt gewöhnten, konnten sie auch später noch damit leben. Auch bei Erich Preiß schien der Krieg kaum Spuren hinterlassen zu haben. Nachdem er aus der amerikanischen Gefangenschaft entlassen wurde, kehrte er in seine Heimat zurück, den Harz. In Quedlinburg verdiente er sein Geld als Industriearbeiter in einer Chemiefabrik, 1950 heiratete er seine Frau Elisabeth. Der Krieg schien ihn genauso schnell wieder losgelassen zu haben, wie er seinerzeit Besitz von ihm ergriffen hatte. Zeitgenossen erlebten Erich Preiß als »ruhigen«, »fairen« und »gesetzten« Menschen – was er als Wehrmachtssoldat an der Front erlebt hatte, merkte ihm niemand an. [2] Auch wer ihn näher kannte, hörte ihn nie etwas vom Krieg erzählen, außer vielleicht der knappen Feststellung, dass »alles beschissen« gewesen sei. Selbst allein unter Männern sprach Preiß lieber über sein Auto. Was ihn viel mehr zu bekümmern schien, war die Kinderlosigkeit seiner Ehe, die auf Außenstehende ansonsten einen glücklichen Eindruck machte. Schon 1984 starb Erich Preiß in Quedlinburg im Alter von 64 Jahren.
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FAZIT
Rund 17 Millionen Männer trugen im Zweiten Weltkrieg die deutsche Uniform mit dem nationalsozialistischen Hoheitsabzeichen. Doch kämpften sie deshalb auch unter nationalsozialistischen Vorzeichen? Fraglich ist, was an dem Verhalten der Soldaten wirklich spezifisch für ihre Zeit und für die Gesellschaft war, aus der sie stammten – und was davon eher universellen Grundmustern entsprach, die sich auch bei den Soldaten aus anderen Nationen und Epochen finden ließen. Hätten sich die deutschen Soldaten anders gebärdet, wenn sie statt der Feldbluse mit dem Hakenkreuz eine amerikanische, italienische oder japanische Uniform getragen hätten? Hätten die in Fort Hunt belauschten Kriegsgefangenen in ihrer Sprache anders geklungen, wenn sie nicht der Wehrmacht angehört hätten, sondern der Roten Armee oder der British Army? Und hätten die Armeen des deutschen Kaiserreichs oder die Bundeswehr den Krieg genauso geführt wie die Wehrmacht?
Übt Gewalt immer die gleiche Wirkung auf Menschen aus, egal zu welchen Zeiten, in welchen Kontexten und Ländern? Stimmt also der alte Topos »Krieg ist Krieg«? Oder besitzt kriegerische Gewalt jeweils auch eine zeitspezifische, kulturelle Eigenart? Inwieweit prägen also historische Mentalitäten, gesellschaftliche Vorstellungen oder gar ideologische Überzeugungen den Umgang mit der
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