Kameraden: Die Wehrmacht von innen (German Edition)
persönlichen, spezifischen und abgestuften Verantwortung für bestimmte Gewaltpraktiken. Das ist ein Plädoyer gegen das Verschwinden der Täter aus der geschichtlichen Betrachtung – und gegen die nivellierende und relativierende Legitimierungsfloskel, dass Krieg eben Krieg sei. Den deutschen Soldaten widerfährt Gerechtigkeit, indem ihre Selbstzeugnisse als Spiegel ihrer Mentalitäten und Erlebnisse ernst genommen werden – als Zeugnisse nicht allein passiven Erduldens, sondern auch aktiven, im Extremfall verbrecherischen Mitgestaltens.
Das offene Gespräch mit unseren Verwandten, die der Wehrmacht oder Waffen-SS angehörten, das Gespräch, das uns die Augen für die Mentalität und das Geschehen in diesem schrecklichen Krieg geöffnet, das unser Verständnis für unsere Familienmitglieder und letztlich für uns selbst geschärft hätte, dieses Gespräch werden die meisten Leser nicht geführt haben und nicht mehr führen können, aus welchen Gründen auch immer. Die Überlagerungen des Erinnerns in den vielen Jahrzehnten, die seither vergangen sind, standen und stehen ohnehin gegen den Erkenntniswert dieser Kommunikation. Umso sprechender ist der vielstimmige Chor, der uns in diesem Buch entgegentritt. In ihrer teilweise schonungslosen Offenheit lesen sich die zeitnahen Äußerungen der Kriegsgefangenen wie Splitter der ungeführten Gespräche mit den ehemaligen Soldaten.
Dieses Buch ist ein doppeltes Angebot. Es lädt dazu ein, über die klug abwägende Interpretation des Autors nachzudenken. Und zugleich konfrontiert es uns mit dem Originalton von Männern, die unsere Väter, Großväter und Urgroßväter sein könnten. Man sollte sich auf beides einlassen.
Johannes Hürter
München, im August 2012
Abb. 2: Persönliche Daten – Basic Personnel Record über den Obersoldaten Alfred Andersch
Abb. 3: Lebensgeschichten – Interrogation Report über eine Vernehmung des Obersoldaten Alfred Andersch
Abb. 4: Abgehört – maschinenschriftliche Room Conversation
Abb. 7: Meinungsumfragen – Morale Questionnaire vom 8. Juli 1944 über den Obersteuermann Hans Broschinski, Jg. 1916
VII
TRUPPENFÜHRER
19. November 1944: Die Wehrmachtskommandantur von Metz liegt unter Feuer. Einschläge von Panzergranaten erschüttern das Gebäude, in dem sich der Oberst Constantin Meyer mit seinen Männern verschanzt hat. Der Feind ist bereits in der Stadt – der Sturm auf die Festung hat begonnen. Das Schicksal der deutschen Garnison in Metz war bereits in der Nacht vom 16. auf den 17. November 1944 besiegelt worden: Auf Befehl der Heeresgruppe G gab die 1. Armee im Schutz der Dunkelheit ihre Hauptkampflinien vor der alten lothringischen Metropole auf und zog sich hinter die Stadt zurück, um an den Reichsgrenzen eine neue Abwehrfront aufzubauen. [1] Damit ist Metz der Einschließung preisgegeben. Hitler erklärt die Stadt zur Festung – die verbliebenen Truppen haben sich »bis zur letzten Patrone« zu verteidigen. Nach dem Abzug der kampfkräftigen Einheiten der 1. Armee ist die Garnison hierzu jedoch zu schwach.
Am 19. November 1944 dringen Truppen der 5th und 95th US-Infantry Division von mehreren Seiten in Metz ein. Panzer rasseln durch die verregneten Straßen. Auf der Moselinsel im Stadtzentrum toben Straßenkämpfe um das Hauptquartier des Festungskommandanten, Generalleutnant Heinrich Kittel. Kittel greift selbst zur Waffe, kämpft und wird verwundet – am 21. November 1944 nehmen ihn US-Infanteristen in einem unterirdischen Lazarett gefangen. Im Stadtzentrum erlischt der Widerstand der Wehrmacht am folgenden Tag. Damit ist der Kampf um Metz im Grunde entschieden. Trotzdem geht er in den abgeschnittenen Außenbereichen der Festung unter der Führung mehrerer entschlossener Kommandeure noch wochenlang weiter. Der Fall von Metz demonstriert die tragende Rolle der Truppenführer: Das Porträt dreier Hauptakteure aus Metz zeigt, dass der Krieg ohne sie nicht hinreichend zu verstehen ist.
Abb. 18: Oberst Constantin Meyer, Jg. 1890
Abb. 22: Handschriftliches Abhörprotokoll aus Ft. Hunt, 28. Dezember 1944
VIII
KÄMPFEN UND TÖTEN
Dezember 1941, die Ostfront vor Moskau: Es herrscht »grauenhafte Kälte« um die 40 Grad unter dem Gefrierpunkt. Der 21-jährige Erich Preiß trägt »keine Handschuhe« und kaum Winterbekleidung, als er sein Maschinengewehr in Stellung bringt. [1] Der starke Frost schmerzt bitterlich, aber jeder Handgriff am eisigen Stahl der Waffe muss jetzt sitzen, denn es geht um
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