Karparthianer 02 Dunkle Macht des Herzens
fertig mit ihm und würden sein Leiden beenden, indem sie ihn töteten, stellte er fest, was die wahre Hölle war. Unerträgliche Schmerzen. Hasserfüllte Gesichter über ihm. Ein zugespitzter Holzpfahl, der über sein Herz gehalten wurde. Ein Atemzug der Zeit, eine Sekunde. Jetzt würde es aufhören. Es musste aufhören. Er fühlte, wie das spitze Ende des dicken Pfahls tief in sein Fleisch gestoßen wurde und durch Muskeln und Sehnen ein klaffendes 13
Loch in seine Brust riss. Der Hammer fiel schwer auf das Ende des Pfahls und trieb ihn noch tiefer hinein. Der Schmerz überstieg jede Vorstellungskraft. Die Frau, die seine Wahrnehmungen teilte, verlor das Bewusstsein -
ein Segen für sie beide. Noch immer fühlte er jeden Schlag, das schwere Holzstück, das sein Fleisch ausei-nanderriss und durch seine Eingeweide drang, während das Blut aus ihm hervorschoss wie eine Fontäne und der Verlust ihn noch mehr schwächte. Er spürte, wie ihn jede Kraft verließ, und fühlte sich so sehr seiner Stärke beraubt, dass er überzeugt war, sterben zu müssen. Er hieß den Tod willkommen, ja er sehnte sich nach ihm.
Aber es sollte nicht sein. Er war Karpatianer, ein Unsterblicher, der nicht leicht zu töten war. Einer, dessen Willen stark und unbeugsam war. Ein Wille, der sich gegen den Tod auflehnte, obwohl sein Körper schon darum bettelte, dass sein Leiden und sein Dasein ein Ende nehmen mögen.
Seine Augen fanden die beiden Menschen. Sie waren über und über mit seinem Blut bespritzt. Er nahm seine letzte Kraft zusammen und fing ihren Blick mit seinen hypnotischen Augen ein. Wenn er sie doch nur lange genug in seinem Bann halten könnte, um das Böse, das sie ihm antaten, auf sie selbst zu lenken! Plötzlich fluchte einer von ihnen und riss seinen Gefährten zurück. Rasch bedeckten sie seine Augen mit einem Tuch, außerstande, die dunkle Verheißung in den tiefen Abgründen seines Leides zu ertragen, und voller Angst vor seiner Macht, obwohl er so wehrlos vor ihnen lag. Sie lachten, als sie ihn in dem Sarg anketteten und ihn aufrichteten. Er hörte sich selbst vor Schmerzen schreien, aber der Schrei war nur ein Echo in seinem Bewusstsein, scharf und bitter, als 14
wollte es ihn verhöhnen. Er zwang sich, jeden Laut zu unterdrücken. Sie konnten ihn nicht hören, aber daraufkam es nicht an. Noch war ihm ein Rest von Würde geblieben, ein Rest von Selbstachtung. Sie würden ihn nicht besiegen. Er war Karpatianer. Er hörte, wie Erde auf den Sargdeckel fiel, als sie ihn in der Wand des Kellers vergruben. Eine Schaufel Erde folgte auf die andere. Die Dunkelheit war undurchdringlich. Die Stille traf ihn wie ein Schlag.
Er war ein Geschöpf der Nacht. Die Dunkelheit war sein Zuhause. Doch jetzt, in all seiner Qual, war sie sein Feind. Es gab nur den Schmerz und die Stille. Früher hatte er immer selbst bestimmt, wie lange er im Dunkel, in der heilenden Erde bleiben wollte. Jetzt war er ein Gefangener, eingesperrt, und das Erdreich war nicht greifbar. Dass die Erde so nahe war, hätte ihn trösten sollen, doch das Holz des Sargs verhinderte, dass sein Körper berührte, was seinen Wunden irgendwann einmal Heilung gebracht hätte.
Hunger drang langsam in seine Welt der Qualen ein.
Die Zeit verging und verlor jede Bedeutung. Nur der schreckliche, unablässige Hunger zählte, der immer stärker wurde, bis er ihn vollständig beherrschte.
Schmerzen und Hunger, etwas anderes existierte nicht mehr für ihn.
Nach einiger Zeit stellte er fest, dass er sich in Schlaf versetzen konnte. Aber dass diese Gabe zurückgekehrt war, bedeutete nichts mehr. Er konnte sich an nichts erinnern. Das hier war sein Leben. Schlafen. Aufwachen, wenn ein neugieriges Wesen ihm zu nahe kam. Der rasende Schmerz, der ihn verzehrte. Sein Herzschlag. Die Anstrengung, genügend Kraft aufzubringen, um sich 15
Nahrung zu beschaffen. Das Angebot war dünn gesät.
Selbst Insekten lernten es, den Ort der Dunkelheit und das bösartige Geschöpf, das dort hauste, zu meiden.
In den endlosen Augenblicken, die sich in seinen qualvollen Stunden des Wachens dahinschleppten, konnte er hören, wie er seinen Namen flüsterte. Jacques.
Er hatte einen Namen. Er war vorhanden. Er existierte. Er lebte in der Hölle. Er lebte in der Dunkelheit.
Stunden wurden zu Monaten, Monate zu Jahren. Er konnte sich an keine andere Lebensweise, an kein anderes Dasein erinnern. Es gab keine Hoffnung, keinen Frieden, keinen Ausweg, nur Dunkelheit, Schmerzen und quälenden Hunger.
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