Erste Male
ZWEITER
Heute habe ich über das Mosaik nachgedacht, das Hope mir an dem Abend geschenkt hat, als sie ihren Hintern aus Pineville geschwungen hat. Eigentlich sollte ich es erst an meinem Geburtstag auspacken, aber so lange konnte ich nicht warten. Ich riss das Einwickelpapier ab und bekam endlich eine Erklärung für die geheimnisvollen, in Streifen gerissenen Zeitschriftenseiten, mit denen ihr Teppich übersät war. Monatelang hatte Hope Bilder von Kürbissen und gelben Schulbussen ausgerissen, um die Farbe ihrer Locken wiederzugeben. Dazu Schokoriegel und Bierflaschen für meine Haare.
Ich hängte es neben meinem Bett an die Wand. Seitdem starre ich es an und versuche mir vorzustellen, wie sie all diese winzigen Fetzen so zusammengeklebt hat, dass ein Abbild meines Lieblingsfotos daraus wurde: Hope und ich um vier Uhr morgens – hellwach und lachend, als wir uns gerade rausschleichen wollen, um den Sonnenaufgang anzugucken.
An diese Sommernacht vor zweieinhalb Jahren, als ich bei Hope übernachtet habe, erinnere ich mich deutlicher als an alles, was ich heute gemacht habe.
Wir sahen uns das Video ihrer »Little Miss Superstar«-Tanzaufführung an. Von dem ganzen Dutzend Vierjähriger in gelben Bikinis, die da zum Beach-Boys-Potpourri einen Gymnastikball herumreichten, beherrschte sie die Bewegungen am besten. (Hopes Kommentar: Drew Barrymore war auch nicht besser! )
Wir versuchten einander bei endlosen Runden unseres Lieblingsspiels »Würdest du lieber« zu übertreffen. Würdest du lieber … den Rest deines Lebens nichts als Fischstäbchen essen ODER von Kopf bis Fuß in *NSYNC-Fanartikel gehüllt sein? Deinem Hund Dalí einen Zungenkuss geben ODER mit Chaka, dem Star der Sonderschule, ins Bett gehen? Für immer pickelfrei sein ODER Körbchengröße D haben?
Wir blätterten das Jahrbuch der achten Klasse durch und stellten fest, dass die Wahl zum Klassenhirn (ich) beziehungsweise Klassenkünstler (sie) einem in der Highschool praktisch schon den Status des intellektuellen Außenseiters garantierte. Wir fanden, Superhirn, das tatsächlich was aus seinem Leben machen wird und nicht als Filialleiterin eines 24-Stunden-Supermarkts endet und Künstlerin, die der Welt mehr geben wird als falsch geschriebene Graffiti klang viel besser. Und dann wälzten wir uns vor Lachen auf dem Teppich, als wir den anderen Kategoriesiegern zutreffende Titel verliehen …
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Mrs Weaver machte zum Frühstück Pfannkuchen mit Zitronensaft und Puderzucker. Hopes damals sechzehnjähriger Bruder Heath sog den Puderzucker durchs Nasenloch undmachte dann irgendwelche durchgedrehten 70er-Jahre-Komiker auf Koks nach. Darüber musste ich so lachen, dass ich dachte, mein Magen würde zu den Ohren rauskommen. Als mir Hope später erklärte, warum sie und ihre Mutter seine Faxen nicht so witzig fanden, kam ich mir total mies vor. Und noch mieser, als Heath vor sechs Monaten an einer Überdosis Heroin starb.
Mein Bruder wäre in dieselbe Klasse gegangen wie Heath. Hope und ich fanden immer, das war ein echt komischer Zufall. Ich habe meinen Bruder allerdings nie gesehen. Matthew Michael Darling starb im Alter von nur zwei Wochen. Plötzlicher Kindstod. In meiner Familie spricht niemand über ihn. Nie.
Mr und Mrs Weaver hatten unzählige Entschuldigungen für den plötzlichen Umzug in ihre winzige Heimatstadt (Wellgoode, Tennessee: 6435 Einwohner, ach nein, jetzt 6438). Sie mussten so schnell umziehen, damit Hope noch rechtzeitig vor den nächsten Prüfungsterminen in die neue Schule kam. Sie mussten zu Hopes Großmutter ziehen, damit sie Geld für Hopes Studium sparen konnten. Aber Hope und ich durchschauten diese Lügen sofort. Wir wussten den wahren Grund – auch wenn wir ihn nie aussprachen. Die Weavers wollten Hope aus Pineville, New Jersey (32000 Einwohner, plus/minus 3), wegschaffen, damit sie nicht so endete wie ihr Bruder. Tot mit achtzehn.
Und jetzt muss ich – ich meine, müssen wir , Hope und ich – seine Fehler ausbaden. Das ist nicht fair. Ich weiß, das klingt vielleicht ein bisschen egoistisch, aber hätten sie nicht wenigstens noch siebzehn Tage
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