Karte und Gebiet - Houellebecq, M: Karte und Gebiet - La carte et le territoire
Familie
beendete ihr limousin breakfast, das für 23 Euro pro Person angeboten wurde, wie Jed
der Speisekarte entnahm. Nicht weit von ihm las ein stämmiger bärtiger Typ mit
einem Pferdeschwanz zerstreut seine E-Mails; er warf einen neugierigen Blick
auf Jed, runzelte die Stirn, überlegte kurz, ob er das Wort an ihn richten
sollte, und wandte sich dann wieder seinem Computer zu. Jed trank sein Glas
Wein leer, ging hinaus und blieb ein paar Minuten nachdenklich am Steuer seines SUV von Audi
mit Elektromotor sitzen – er hatte im Lauf der letzten zwanzig Jahre dreimal
das Auto gewechselt, aber er war der Marke treu geblieben, die ihm sein erstes
echtes Fahrvergnügen verschafft hatte.
In den folgenden Wochen erforschte er
gemächlich in kleinen Etappen, ohne das Limousin wirklich zu verlassen – bis
auf einen kurzen Ausflug in die Dordogne und einen noch kürzeren in die Berge
bei Rodez –, Frankreich, dieses Land, das unbestreitbar das seine war.
Frankreich hatte sich ganz offensichtlich stark verändert. Er ging zahlreiche
Male ins Internet, führte ein paar Gespräche mit Hoteliers, Restaurantinhabern
und anderen Dienstleistern (dem Inhaber einer Autoreparaturwerkstatt im
Périgueux, einem Escort Girl aus Limoges), und alles bestätigte den ersten
Eindruck, der ihn beim Besuch des Dorfes Châtelus-le-Marcheix geradezu
überwältigt hatte: Ja, das Land hatte sich verändert, von Grund auf verändert.
Die einheimischen Bewohner der ländlichen Gebiete waren fast alle verschwunden.
Neuankömmlinge aus der Stadt mit ausgeprägtem Unternehmungsgeist und bisweilen
auch gemäßigten ökologischen Überzeugungen, die sich mitunter vermarkten
ließen, hatten sie abgelöst. Sie hatten es unternommen, das Hinterland zu
bevölkern – und nach diversen unfruchtbaren Versuchen in früherer Zeit war
dieses Unternehmen, das nun auf einer soliden Kenntnis der Marktgesetze und
deren einsichtiger Hinnahme gründete, ein voller Erfolg.
Die erste Überlegung, die Jed
anstellte – und in der die typische Egozentrik des Künstlers zum Ausdruck kam –, war die Frage, ob seine Serie einfacher Berufe etwa zwanzig Jahre nachdem er sie konzipiert hatte
noch immer relevant war. Das traf in der Tat nur noch mit Einschränkungen zu.
Das Bild Maya Dubois, Fernwartungsassistentin besaß keine Existenzberechtigung mehr: Die Fernwartung
war inzwischen zu 100 Prozent ins Ausland verlagert worden – im
Wesentlichen nach Indonesien und Brasilien. Das Bild Aimée,
Escort Girl war dagegen noch immer aktuell.
Die Prostitution hatte aus wirtschaftlicher Sicht sogar eine echte Blütezeit
erlebt, die zum einen auf dem vor allem in den südamerikanischen Ländern und in
Russland noch immer herrschenden imaginären Klischee der Pariserin beruhte und zum
anderen auf der unermüdlichen Tätigkeit der aus Westafrika eingewanderten
Frauen. Frankreich war zum ersten Mal seit dem ersten Jahrzehnt des zwanzigsten
Jahrhunderts wieder zu einem bevorzugten Reiseziel des Sextourismus geworden. Auch
neue Berufe waren in Erscheinung getreten – oder besser gesagt alte, dem
Zeitgeschmack angepasste Berufe wie der des Kunstschlossers und des
Kupferschmieds; auch der Gemüseanbau auf Sumpfboden war wieder in Mode
gekommen. In Jabreilles-les-Bordes, einem fünf Kilometer von Jeds Haus
entfernten Dorf, hatte sich wieder ein Hufschmied niedergelassen – die Creuse
mit ihrem Netz von gut unterhaltenen Wanderwegen, Wäldern und Lichtungen
eignete sich wunderbar für Ausflüge zu Pferd.
Ganz allgemein ging es Frankreich in
wirtschaftlicher Hinsicht gut. Das Land, das seine Einkünfte vor allem aus
Landwirtschaft und Tourismus bezog, hatte die verschiedenen Krisen, die in den
letzten zwanzig Jahren fast unablässig aufeinander gefolgt waren,
außerordentlich gut verkraftet. Diese Krisen waren immer heftiger und derart
unvorhersehbar geworden, dass es geradezu burlesk war – zumindest vom
Standpunkt eines spöttischen Gottes, der sich wahrscheinlich hemmungslos über
die finanziellen Zuckungen lustig gemacht hätte, die quasi über Nacht ganze
Erdteile von der Größe Indonesiens, Russlands oder Brasiliens mit Reichtum
überhäuften, ehe diese ebenso plötzlich von Hungersnöten heimgesucht wurden,
was jeweils Bevölkerungen von Hunderten Millionen Menschen betraf. Da
Frankreich aber kaum mehr als Romantikhotels, Parfum und Rilletten anzubieten
hatte – was man die Kunst zu leben nennt –, hatte das Land diese unliebsamen
Überraschungen ohne Schwierigkeiten
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