Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Wie ruhig es ist, dachte sie, wie unerwartet ruhig es hier drinnen doch ist. Als hätte der hohe, kühle Raum, in dem sie eingeschlossen war, den Atem angehalten. Weder die Geräusche der Autos auf der nahen Straße waren zu hören noch das Gezanke der anderen auf dem umzäunten Innenhof. Dabei war das Fenster geöffnet und die Frühjahrssonne blinzelte durch den Spalt, den die blinde Scheibe gelassen hatte. Sie lauschte der Stille. Dem Echo des Flüsterns und Seufzens der Heiminsassen, die vor ihr im Arrestzimmer gesessen hatten. Ihrem längst vergangenen Flehen, ihrer Wut, ihrer Verzweiflung. Sie lauschte den in den bröckeligen Putz geritzten Wünschen und Flüchen. Auch sie selbst hatte geritzt, in den langen Stunden, die vergangen waren, seit man sie am Morgen eingesperrt hatte; zuerst ihre Haut, wie sie es immer tat, wenn sie sich spüren wollte, dann mit einem Löffelstiel die Wand.
Es gab da ein Wort, das sie nicht mehr losließ. Ein Mantra, das ihr seit Wochen durch den Kopf ging. Es war ein fremdes, ein kraftvolles Wort und sie war beinahe damit fertig geworden, es in großen Buchstaben in den Putz zu schneiden, auf dass es die Schar ihrer Nachfolger lesen mochte: als Mahnung und Aufschrei zum Protest. Nur eine kurze Pause, dachte sie, die brennenden Finger entspannen und das schmerzende Handgelenk. Und wie sie da saß, eingesperrt und einsam, kamen die Gedanken wieder, die sie immer häufiger heimsuchten, seit sie mit der Journalistin gesprochen hatte, die für einen Bericht über die Situation in Jugendheimen recherchiert hatte. Gedanken über sich und ihr Leben. Über die strengen Regeln und die unnötigen Bestrafungen. Über die Ungerechtigkeiten, die hier tagtäglich geschahen. Es war, als hätte diese Journalistin mit den warmen Augen und der sanften Stimme sie verstanden, unglaublich, als hätte eine Erwachsene sie tatsächlich verstanden! Und nicht nur das. Sie hatten gemeinsam über andere Dinge diskutiert. Über große Dinge, große Zusammenhänge. Über das System. Selten hatte sie sich so ernst genommen gefühlt. Die Journalistin hatte ihr sogar ihre Privatadresse gegeben. Wenn mal was ist, hatte sie gesagt. Wenn du draußen bist und mal was ist.
Sie war nicht draußen. Sie saß hier drin fest. Weil sie auf dem Klo eine Zigarette geraucht hatte und von der Aufseherin erwischt worden war. Sie saß hier drin und lauschte in die Stille hinein. Und wenn sie die Augen zukniff, nur ganz leicht, nur ein kleines bisschen, dann sah das Rechteck, das die Sonne an die gegenüberliegende Wand warf, beinahe aus wie eine Tür.
Als die diensthabende Erzieherin am Abend das Arrestzimmer aufschloss, erschrak sie. Der Raum war leer. Das Mädchen war verschwunden. Zurückgelassen hatte es eine halsbrecherische Pyramide aus Tisch, Bank und Nachttopf und eine Art Lasso aus einem Pullover, das am Fensterkreuz baumelte. An der Wand stand ein neues Wort.
BAMBU
Die Erzieherin begriff nicht ansatzweise, was es bedeutete.
SCHWEDEN, HEUTE
Janus Dahlin brauchte die ausgedehnten Spaziergänge in diesen frühen Stunden, besonders im Juni, wenn die Nächte kaum mehr waren als ein flüchtiges Dämmern, denn dann stiftete die Schönheit der klaren Morgen seiner chronischen Schlaflosigkeit einen Sinn. Es war kurz nach fünf und die Sonne stand bereits eine Handbreit über dem dunklen Saum aus Nadelbäumen auf der gegenüberliegenden Seite des Helgasees, über Ekesås und Rottnevägen. Der Dunst, der wie eine zweite Haut über der Wasseroberfläche lag, glühte rosa und orange. Dahlins Schritte verlangsamten sich, dann blieb er stehen. Er nahm seine Brille ab, schloss die Augen und fühlte die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er atmete die Frühsommersonne und die Frische des Morgens ein.
Als er die Brille am Ärmel seines Fleecepullis geputzt und wieder aufgesetzt hatte, sah er, dass sein Hund auf ihn zugestürmt kam, im Maul einen Ast. Das Fell des Retrievers war nass, im Schein der tief stehenden Sonne wirkte es wie aus Gold. Um diese Uhrzeit konnte er das Tier ohne Leine laufen lassen, selbst in Evedalsvägen, die großen Audis, Volvos und BMW standen noch mit kalten Motorhauben in den Doppelgaragen und Carports auf den großzügig geschnittenen Seegrundstücken. Strax ließ sich mit wedelndem Schweif vor ihm nieder und sah zu ihm auf. Dahlin wusste, was von ihm erwartet wurde. Er nahm dem Hund den speichelnassen, morschen Strunk aus dem Maul und warf den Ast so weit er konnte die Straße hinauf. Strax schoss los.
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